Die Hochschulen kommen in die Stadt

Eine neue Initiative wurde in Augsburg gestartet: ökumenische Hochschulgottesdienste in der Stadtpfarrkirche St. Moritz. Der Anfang ist gelungen. Die rege Teilnahme an den vier Gottesdiensten im vergangenen Wintersemester und die öffentliche Resonanz, auch in der Presse, bestätigen es.

Die Anregung ging von Dr. Rudolf Freudenberger aus, dem Dekan des Evangelisch-Lutherischen Dekanatsbezirks Augsburg, einem Vorkämpfer der Ökumene. Augsburg eine Stadt der Ökumene, der Kultur und der Hochschulen, aber - so führte er ins Feld - die Universität könnte noch mehr in der Stadt präsent sein. Dazu bot er die Unterstützung der Kirche an. Die Leiter der Fachhochschule, der Universität und der neu gegründeten Musikhochschule waren ebenso schnell für das Anliegen zu gewinnen wie Oberbürgermeister Dr. Peter Menacher und die katholischen und lutherischen Autoritäten der Stadt mitsamt den Studentenseelsorgern der Universität. Nicht zuletzt verdient der Weltbild-Verlag unseren Dank, dass er die Öffentlichkeitsarbeit für ein Jahr gesponsert hat.

Nach diesen Vorbereitungen fand seit November vergangenen Jahres einmal monatlich am Sonntagabend um 19 Uhr in St. Moritz ein ökumenischer Gottesdienst besonderer Art statt. Anders als sonst war die Zusammensetzung der Gottesdienstgemeinde aus Studierenden aller drei Hochschulen sowie akademisch interessierten Bürgern und ökumenisch aufgeschlossenen Mitgliedern der Stadtpfarreien. Anders war die variationsreiche und anspruchsvolle musikalische Gestaltung durch die Musikhochschule und den Lehrstuhl für Musikpädagogik an der Universität.

Anders waren vor allem die Denkanstöße der Professoren anstelle der üblichen Predigt. Von der Fachhochschule beteiligte sich ein Ökonom, von der Universität ein Germanist, ein Jurist und ein Physiker. Jeder trug aus der Perspektive seiner fachlichen Zuständigkeit, wenngleich nicht in verschlüsselter Fachsprache, und aus seiner persönlichen Erfahrung Gedanken in Anknüpfung an die Bibel und/oder in Auseinandersetzung mit ihr vor. Vorgegeben war einzig das Leitwort "Anfänge", das auf unterschiedlichste Ideen bringt, und die (für Professoren nicht unwichtige) zeitliche Begrenzung.

Auf Grund des erfreulichen Echos und der häufigen Nachfrage veröffentlichen wir in einem Hausdruck der Universität die Ansprachen. Die Lebendigkeit des mündlichen Wortes soll erhalten bleiben, aber auch die Möglichkeit bestehen, in der schriftlichen Fassung Erläuterungen nachzutragen.

Die Broschüre mag für die einen eine Erinnerung an ein eindrucksvolles Erlebnis sein, für andere die Möglichkeit, wenigstens nachzulesen, was sie gerne gehört hätten, und für hoffentlich viele eine Einladung zu den Hochschulgottesdiensten im kommenden Sommersemester. Unter dem neuen Leitwort "Glück" werden sie an jedem dritten Sonntag um 19 Uhr von Mai bis Juli in der Barfüßerkirche stattfinden.

mehr zu der Broschüre unter:
http://www.presse.uni-augsburg.de
mail. info@presse.uni-augsburg.de

 
   
Prof. Dr.
Hans Vilmar Geppert

Rose Ausländer "Am Anfang war das Wort"

Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,
ich spreche über ein Bibelgedicht, eine freie dichterische Auseinandersetzung mit Versen der Bibel
. Das Gedicht stammt von Rose Ausländer und lautet:

Am Anfang
war das Wort
und das Wort
war bei Gott

Und Gott gab uns
das Wort
und wir wohnten
im Wort

Und das Wort
ist unser Traum
und der Traum
ist unser Leben.

"Im Anfang war das Wort." Als der Evangelist Johannes Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus diesen Satz niederschrieb, da verwendete er ein Wort, arche, das im Griechischen die "alte Zeit" bedeutet (so wie heute noch in "Archäologie"), aber auch "Herrschaft" (so wie in "Monarchie"), er sagte also: "in der alten die Herrschaftsverhältnisse begründenden Zeit", oder allgemeiner: "Die Wahrheit, die von der Ewigkeit in die Zeit hineinreicht, lebt in Gottes Wort".

Dreihundert Jahre später, von 382 an, erarbeitete der Bischof Hieronymus die seitdem gültige lateinische Bibel: Er schrieb "In principio erat verbum". Im Wort "principium" nun steckt die Zahl "eins" bzw. "zuerst". Das Wort für Anfang bekommt etwas "Wissenschaftliches" oder auch etwas von der Sprache des "Rechts": "Als erste Ursache, als ersten Grundsatz gab Gott uns sein Wort".

Fast gleichzeitig, ja noch etwas früher, um 370, übersetzte der Gote Wulfila die griechische Bibel in die Sprache seines Volkes. Leider ist der Anfang des Johannesevangeliums auf gotisch nicht erhalten, aber Philologen haben es noch immer fertig gebracht, über Texte zu reden, die sie garnicht kennen. So kann man aus dem Rest erschließen, dass Wulfila vielleicht geschrieben hätte: "In frumistin", in der allerfrühesten Zeit; das heißt, er wäre vom Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten ausgegangen: "In der frühesten Zeit, als die Welt auf-wachte, als alles zu wachsen begann (so wie es immer wieder Frühling und immer wieder Tag wird), da war das Wort schon bei Gott, da war Gottes Wort die lebendige Kraft der Welt".

Etwa fünfhundert Jahre später, um 830, übersetzten Mönche des Klosters Fulda den Anfang des Johannesevangeliums auch ins Deutsche. Die älteste bekannte deutsche Übersetzung lautet: "In anaginne was wort." Das ist unserem Wort "Beginn" nah verwandt. Und die Bibeln in den meisten germanischen Sprachen (niederländisch, schwedisch) beginnen mit einem solchen Wort. So auch die 1611 fertiggestellte englische Bibel, die nach ihrem Auftraggeber Jakob oder James I "King James Bible" heißt und die für das Weltchristentum eine außerordentlich große Bedeutung hat: "In the beginning was the word".

Neunzig Jahre früher, 1521, übersetzte Luther das Neue Testament. Er entschied sich gegen das Wort "Beginn" und für das Wort "Anfang". Denn der Unterschied zwischen beiden Wörtern ist erheblich."Beginn", von althochdeutsch "ginnan", heißt "schneiden", "hineinschneiden". "Anfang", von althochdeutsch "an-fahn", heißt "anfassen", "anpacken", allgemeiner gesagt: "Als die Zeit sich von der Ewigkeit unterschied ("Beginn" heißt "zeitlicher Einschnitt"), da war es das Wort, das alles aus der bloßen Möglichkeit herauslöste und seine jeweilige Gestalt annehmen ließ", so die Mönche des achten Jahrhunderts und die niederländische, schwedische und vor allem die englische Bibel. "Als Gott die Welt in die Hand nahm, als er sie zu formen und zu gestalten begann, da gab er ihr die schöpferische Kraft seines Wortes mit", so Luther.

Auf alle Fälle wird die Vorstellung des "Anfangs" dynamischer, energischer, tätiger, je mehr wir uns der Neuzeit nähern. So ist auch für die romanischen Sprachen das Wort "principe" nicht mehr angemessen. Die "Version Synodale", die Bibel der französischen Schweiz, lautet: "Au commencement était la parole"; das heißt, hier liegt nach dem ursprünglichen umgangssprachlich lateinischen "cum-intiare", "hineingehen", die Vorstellung eines Weges zugrunde: "Als die Weltgeschichte sich auf ihren Weg begab, da leitete sie Gottes Wort"...

Welch ein Reichtum, welche Vielfalt bereits in unserer eigenen europäischen Tradition! Und vor allem: wieviel schöpferische Sprach-Arbeit, wieviel Phantasie, ja, wieviel Dichtung ist bereits in die Sprache der Bibel hineingegangen!

Ich habe diesen kleinen Ausflug in die Vielfalt der "Worte" für "Anfang" nun aber nicht nur gemacht um der Vielfalt willen und weil mich das berufsmäßig interessiert - ich habe einen Lehrstuhl für "Vergleichende Literaturwissenschaft" inne -, das Rahmenthema dieser ersten Reihe von Ökumenischen Hochschulgottesdiensten "Anfänge" regte sicher auch zu solchen Überlegungen an. Ich wollte aber auch auf den Schock vorbereiten, den meine erste Aussage zu Rose Ausländer für Sie vielleicht bedeutet. Ihr Gedicht wirkt sehr einfach und scheint den Anfang des Johannesevangeliums genau zu übernehmen. Aber es ist, liest man in ihren Gedichten herum, sehr kühn, ja zunächst provozierend. Wenn sie sagt "Am Anfang war das Wort", dann meint sie das "dichterische Wort", das freie, schöpferische, menschliche Wort, in dem die göttliche Schöpferkraft lebt, das "Wunder der Worte, die Welten erschaffen". So gibt es zu unserem Gedicht ein genaues Gegengedicht, einen Kontrapunkt sozusagen. Und dieses Gedicht hat nicht zuletzt auch gegenüber der jüdischen Tradition, wie sein Titel sagt, "Keinen Respekt". Denn es geht um den Namen Gottes:

Ich habe keinen Respekt
vor dem Wort Gott
Habe großen Respekt
vor dem Wort
das mich erschuf
damit ich Gott helfe
die Welt zu erschaffen.

Rose Ausländer sagt - letztlich in einer ursprünglich griechischen, von der Romantik und von der Moderne vielfach wiederbelebten Tradition -: "Am Anfang war das Gedicht". Und "Dichtung" heißt Spracherneuerung, immer wieder die Erneuerung der abgenutzten, konventionell gewordenen Sprache. Insofern hängen "Wort" und "Anfang" eng zusammen: "Das wahre Wort ist immer ein Anfang". "Each venture is a new beginning, a raid on the inarticulate" / "Jede dichterische Unternehmung, jedes Sprachabenteuer, ist ein neuer Anfang, ein Angriff auf das noch Ungesagte". An diese Zeile von T.S. Eliot könnte Rose Ausländer gedacht haben, als sie dieses Gedicht schrieb.

Spracherneuerung heißt freilich auch Verfremdung. Sprache, Worte beziehen sich nie nur auf sich selbst. Sprache heißt nicht Identität, sondern Alterität. Am Anfang war das Wort des anderen. "Am Anfang war das fremde Wort"? Und verfremdend wirkt die zweite Strophe unseres Gedichts, sie ist eine sehr jüdische - dazu, zu ihrem "Sandvolk", ihrem "Grasvolk", hat Rose Ausländer sich bei aller Freiheit und Selbständigkeit stets bekannt - und sie ist eine sehr persönliche Strophe. Das Wort, "das Gott uns gab" - davon, dass es "Fleisch wurde" ist ja, zumindest direkt, nicht die Rede -, ist vor allem die "Thora", das Buch, aus dem die Juden die Weltgeschichte hindurch buchstäblich gelebt haben. Und die "Wohnung" im Wort meint die jüdische "Schechina", die Gegenwart Gottes auch außerhalb des Tempels, zum Beispiel in der babylonischen Gefangenschaft oder in der weltweiten Zerstreuung.

Aber für Rose Ausländer verbinden sich mit dem "Wohnen im Wort" zwei sehr persönliche Bedeutungen. Die erste betrifft ihr Leben: Sie wurde 1901 in Czernowitz in der Bukowina geboren und starb 1988 in Düsseldorf. Ihr Leben war zum einen geprägt von einem ruhelosen Hin und Her, vor allem zwischen Amerika, in das sie achtzehnjährig aus wirtschaftlicher Not auswanderte, und Europa, in das sie aus Heimweh zurückkehrte, das sie aus beruflichen Gründen verließ, um wegen der Krankheit ihrer Mutter zurückzukehren, später wieder buchstäblich nach Amerika zu fliehen, wieder zurückzukehren und so fort. Und die andere Seite ihres Lebens waren die Phasen der Gefangenschaft, zum einen 1941-1945, als die Judenverfolgung auch Rumänien und die Bukowina erfasste, sie im Ghetto lebte, sich in wechselnden Wohnungen und zuletzt in Kellern verstecken musste, um der Vernichtung zu entgehen, der ein Großteil ihrer Familie zum Opfer fiel. Und wie bei vielen Überlebenden der "Shoa", der "Galgenzeit" auf dem "gelben Stern", in der "wir stündlich starben", wie sie es selbst einmal nannte, führten diese Erfahrungen später zu einer so tiefen Depression, dass sie die letzten zehn Jahre ihres Lebens ohne sonstigen äußerlichen Grund, zumindest zunächst, bettlägrig wurde, um sich so weit wie möglich vor der Welt zurückzuziehen. Ein "Wohnen" im üblichen Sinn kann man dieses Leben nicht nennen. "Ich wohne nicht, ich lebe." Um so intensiver wohnte sie in ihren Sprachräumen, in ihren Gedichten:

Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer

Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort

Sehr persönlich wird dieses Gedicht für Rose Ausländer auch dadurch, dass sie eben den Text der Lutherbibel zitiert. Das "Wort", um das es für sie geht, ist in einem wesentlichen Sinne "deutsch". Das hängt mit ihrem Leben zusammen und verbindet sie mit anderen deutschjüdischen Dichtern wie Yvan Goll und vor allem mit dem vielleicht bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, Paul Celan. Alle diese Autoren hatten ein sehr inniges Verhältnis, sehr viel Liebe zur deutschen Sprache. "Deutsch" war für sie die Sprache der Bildung, der Literatur, der Kreativität, der Wahrheitssuche. Und genau diese Sprache, in der sie sich am besten auszudrücken verstanden, in der sie träumten und dichteten, wurde die Sprache ihrer Verfolger und Mörder: "Schwarze Milch", Todesnahrung - die Metapher findet sich bezeichnenderweise bei genau diesen drei Dichtern. Paul Celan spricht davon, dass "der Giftzahn die Worte durchstieß", sagt aber auch: "Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem, sie musste hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede [...] sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten".Yvan Goll, der Elsässer, dessen Muttersprache französisch, seine bevorzugte Dichtungssprache aber deutsch war, der immer wieder fliehen musste, in die Schweiz, nach Frankreich, in die USA, jahrelang nicht deutsch geschrieben hatte, kehrte 1947 todkrank nach Paris zurück und schrieb dann noch einmal eine Sammlung erschütternder und zugleich schöner deutscher Gedichte: "Wir hatten kein Haus wie die anderen" beginnt eines davon. Rose Ausländer, die von sich sagte, Dichten sei für sie so lebensnotwendig wie Atmen, schreibt von 1947 an, als ihr das ganze Ausmaß der "Shoa", des "Holocaust", der Judenvernichtung durch die Deutschen bewusst wurde, bis 1957 kein Wort deutsch. Erst als sie von der amerikanischen Dichterin Marianne Moore die moderne, verfremdende, vieldeutige, widersprüchliche und verkürzende Poetik lernte, wurde sie dieses Sprachtrauma los: "Mein aus der Verzweiflung geborenes Wort" hat sie später diesen Neuanfang genannt. Und so bitter, so dunkel - "Am Anfang war mein verzweifeltes Wort" - kann man dieses Gedicht, kann man das "Wohnen im Wort" auch verstehen. Damit spricht Rose Ausländer für viele deutsch-jüdischen Dichter. Ihre Liebe zur deutschen Sprache war eine tief verletzte, aber doch nur um so stärkere Liebe. Wenn man ihre Gedichte betrachtet, buchstäblich ein reiches Geschenk an unsere Literatur, dann ist selten so viel Böses mit so viel Gutem vergolten worden.

Der letzte Vers des Gedichts kehrt nicht zum Text, wohl aber zum Sinn des Johannesevangeliums zurück. Nach der poetisch-modernen Verfremdung der ersten Strophe und der sehr persönlichen, jüdischen Gegenrede in der zweiten, lässt sich die dritte Strophe jüdisch, christlich, dichterisch oder eben human verstehen. Denn "Traum" kann Illusion heißen. Dann ist das volle Risiko gemeint, welches das Wort, die Wahrheit, die Kreativität in der Welt, das Licht in der Finsternis immer wieder eingehen muss. Aber "Traum" heißt hier auch "Hoffnung", so wie ja auch der Wechsel von "war" zu "ist" seine Fortsetzung "wird sein" verlangt. "Hoffnung" steht hier gegen alle persönliche leidvolle Erfahrung, sie gehört aber auch zu jedem dichterischen "Anfang", und sie ist für Juden wie für Christen der Atem des Glaubens.

Vor allem ist gerade das Johannesevangelium das Evangelium von der Hoffnung. Im "Anfang" ist hier die "Vollendung", in der "Schöpfung" die "Erlösung", in der "Vergangenheit" die "Zukunft" mit gemeint. "Das Wort von der Hoffnung war im Anfang bei Gott". Für Jesus Christus, wenn das Wort Fleisch, Gott Mensch wird, dann ist ja auch die Vielfalt der sprachlichen Auffassungen von "Anfang" kein Problem, sondern eine Bereicherung: das Hereinleuchten der Ewigkeit in die Zeit wie in""arche", die Formulierbarkeit für uns Menschen wie in "principium", die immer sich erneuernde Kraft wie in "frumistin", die einschneidende Veränderung wie in "anaginna" oder "beginning", die Tat Gottes wie in "Anfang" als "Anfassen" und der "Weg" zu einem "Ziel" wie in "commencement". Aus theoretischer Sicht heißt Sprache, heißt "Wort" Bedeutungvielfalt: "Am Anfang war die Vielfalt" oder auch "Am Anfang war die Oekumene"? Das verträgt sich alles sehr gut mit der Lesart: "Am Anfang war die Dichtung". Nach jüdischer Tradition ist das innerste Wesen der dichterischen Phantasie ein "Hören", "Vernahme", wie es der Philosoph Martin Heidegger nannte. "Zu Ende gedacht / den geborenen Menschen / tönt es zurück" schreibt Ernst Meister. Dichtung ist zuerst und zuletzt "dialogisch": "ich" und "der andere", der "ganz andere", so Paul Celan. Dichtung führt zum "Hören". Das "Wort von der Hoffnung ist ein Gedicht", sagt Rose Ausländer, aber zuerst und zuletzt das Gedicht eines großen "Du". So haben gerade die jüdisch-deutschen Dichter den Gedanken einer "dichtend hörenden Hoffnung" immer wieder intensiv zum Ausdruck gebracht:

Ilse Aichinger

Und hätt ich keine Träume
so wär ich doch kein anderer,
ich wär derselbe ohne Träume,
wer rief mich heim?

Paul Celan

Einmal
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt
[...]
Licht war. Rettung.

Oder eben Rose Ausländer

Und das Wort
ist unser Traum
und der Traum
ist unser Leben.

Amen

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Augsburg, 12. November 2000
Prof. Dr. Hans Vilmar Geppert
Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Vergleichende Literaturwissenschaft
Universität Augsburg
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Prof. Dr.
Thomas M. J. Möllers

Am Anfang war die Tat

Im Namen des Vater und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Liebe Gemeinde!

I. Einleitung

1. Die Logosszene

"Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd’ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.
Geschrieben steht: "Im Anfang war das Wort!"
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe,
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreib‘ getrost: Im Anfang war die Tat!"1

2. Umschreibung des Themas

Goethe‘s Faust

Warum beginne ich mit Goethe’s Faust? Sicherlich nicht, um Faust als Magier oder den Pakt mit dem Teufel zu beschwören2. Auch nicht, um mit Ihnen die Frage zu erörtern, wie es Faust mit der Religion hielt3. Selbst die vorgetragene Logosszene interpretieren zu wollen, erscheint mir reichlich gefährlich.

Einige übersetzen das Johannes-Evangelium4 aus dem Griechischen, so dass aus dem _____ ("logos") der Satz wird: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott."

Die Übersetzung von Faust durch Goethe wird folglich als Fehlleistung qualifiziert5.

Andere setzen dagegen früher an: Wenn im Alten Testament in hebräischer Sprache davon gesprochen wird, dass "Gott sprach"6 , dann ist mit dem Wort ___ ("d_w_r") das wirkmächtige Schöpfungswort Gottes gemeint, das bewirkt, was es bezeichnet. Im Anfang steht das Ereignis, was ja nichts anderes als die Handlung ist, also die Tat. Und weil Goethe schon in früher Kindheit Hebräisch gelernt hatte, sei davon auszugehen, dass er diese Bedeutung kannte7 .

Das zwiespältige Spannungsverhältnis zwischen Wort und Tat

Ich bin kein Philologe und begebe mich nur ungern in vermintes Terrain. Ich möchte deshalb nicht das Wort _____ ("logos") gegen das hebraische ___ (d_w_r), also "Wort" und "Tat" gegeneinander ausspielen8.  Vielmehr möchte ich mit Ihnen heute ein wenig über die eigentlichen "Taten" in der Bibel nachdenken und auch über das zwiespältige Spannungsverhältnis zwischen "Wort" und "Tat".

II. Glaube und Tat

1. Wort und Tat im Christentum – die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre

Die in Augsburg im letzten Jahr verabschiedete "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre"9  von Katholiken und Protestanten verdeutlicht diese Doppelstellung von Glaube und Tat. Sie betont, dass wir allein aus Gnade im Glauben, nicht aufgrund unserer Verdienste, von Gott angenommen werden10 .  Sie hebt aber auch hervor, dass gute Werke (...) der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind. Jesus und die apostolischen Schriften ermahnen den Christen, Werke der Liebe zu vollbringen.11  Wer die Bibel liest, wird immer wieder feststellen, dass sich die ganze Heilsgeschichte auf zwei Gebote reduziert: Glaube und Tat12 .

2. Im Anfang war die Tat

Die Bibel ist voller Taten.

Gottes Taten

Das sind die zahlreichen Taten von Gott, mit denen er mit den Menschen kommunziert, sei es, beim Auszug aus Ägypten in das Gelobte Land13 , sei es, als er Moses die zehn Gebote übergibt14 . Gott schafft durch Taten den Bund mit den Menschen.

Die Taten von Jesus Christus

Es sind aber vor allem die Taten und die vielen Gleichnisse, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben von Jesu Christus ziehen. Jesus ist barmherzig, er vergibt den Sündern15 . Der verlorene Sohn darf zurückkommen16 . Jesus hilft den Kranken, den Aussätzigen oder Gelähmten17 .

III. Die Tat im täglichen Umgang miteinander

Was bedeuten diese "Taten" aber für uns heute noch im Alltag? Brauchen wir heute überhaupt noch Religion? Haben in einem säkularisierten Staat nicht Recht und Politik die Aufgabe übernommen, für ein gedeihliches Zusammenleben zu sorgen?

1. Zur Rolle des Rechts

Chancen des Rechts

Recht will die Anarchie vermeiden. Nicht das Recht des Stärkeren soll gelten, sondern jeder Bürger soll sein Recht durch Gerichte erlangen können. Recht schützt den Schwächeren18. Unsere Grundrechte verstehen wir als Abwehrrechte gegen den Staat und Schutzpflichten des Staates. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."19  Diese Formulierung in unserem Art. 1 des Grundgesetzes ist so schön, dass sie jetzt auch als Art. 1 der Europäischen Grundrechtscharta aufgenommen wurde.

Grenzen des Rechts

Doch Recht stößt schnell an seine Grenzen. Recht ist vor allem lückenhaft: Nur zu oft will und kann Recht bestimmte Lebensbereiche nicht regeln: Der verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz versagt beispielsweise weitgehend im Zivilrecht: Der Vermieter darf den gutdotierten Manager als Mieter nehmen und kann die Familie oder den Ausländer zurückweisen20 .

Recht versagt, weil es in der Regel nur ein Unterlassen, nicht aber das Tun, also die Tat, fordert. Oder noch drastischer: Recht versagt, wenn es um die die Bereitschaft zur Kontaktaufnahme, Anteilnahme, um Freundlichkeit und Herzlichkeit miteinander geht. Solche Werte, die das Leben erst lebenswert machen, sind nicht justiziabel.

2. Zivilgesellschaft und Zivilcourage

Wenn Recht versagt, könnte vielleicht die Politik den Bürger fordern. Politiker, wie Kurt Biedenkopf oder Antje Vollmer haben jüngst ihre Vorstellungen ausgebreitet, was von der Gesellschaft zu fordern ist21.  Es geht um die "Zivilgesellschaft" und um Zivilcourage.

Der ungeklärte Begriff

Nur: Mit der Forderung nach mehr Zivilcourage22 tut sich der Deutsche schwer.

• Für den Begriff "zivil" fehlt uns schon eine entsprechende Tradition. Über Jahrhunderte hinweg war der Deutsche Untertan. Im Dritten Reich oder im Kommunismus konnte und sollte der Bürger eigenverantwortliches Tun nicht lernen. Die Demokratie bekam er von Dritten. Dem Deutschen ist das Zivile, die Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft wenig vertraut.

• Auch mit der Courage der Deutschen ist es nicht sonderlich gut bestellt. Nachweislich sind die Deutschen Weltmeister im Versichern23 . Warum ist der Deutsche Michel, der mit Schlafmütze immer leicht entrückt vor sich hin träumt, das Symbol des Deutschen?

Zivilcourage als Teil einer Leitkultur?

• In Sydney, wo ich im letzten Jahr einen Forschungsaufenthalt verbrachte, startete eine Initiative mit den Worten: "Do the right thing" – frei übersetzt: "Mach‘ das Richtige". Es war eine Aufforderungen, an jeden Einzelnen, sich selbst zu prüfen, wie er sich richtig in der Gesellschaft verhält, wie er sich für die Gesellschaft einsetzen kann24 .

• In Deutschland haben wir mit der Demokratie in den letzten 50 Jahren viel erreicht. Viel zu oft haben wir die Demokratie aber nur als Fundgrube neuer Ansprüchen entdeckt, nie aber das Pendant empfunden, nämlich die Bürgerpflichten. Wenn wir schon über eine Leitkultur diskutieren, sollten wir klären, welche Pflichten wir uns abverlangen, die über das Mimimum gegenseitiger Toleranz hinausgehen.

Der Wertepluralismus unserer Tage lässt verbindliche Werte für jedermann nur noch schwer zu. Und die Politik tut sich sichtbar schwer, die Gesellschaft für diese Fragen zu mobilisieren.

3. Über die Grenzen von Politik und Recht hinaus - Glaube und Tat im Christentum

Fragen wir uns deshalb, wo über die Grenzen von Recht und Politik hinaus die Taten von Jesus Christus uns Vorbild sein können, für eine couragierte christliche Nächstenliebe.

Freundesliebe und die Goldene Regel

Sind wir doch ehrlich: Unser Gewissen beruhigen wir oft mit dem Gedanken, dass wir doch freundlich mit den Menschen umgehen, die wir lieben. Mit dieser Freundesliebe25  gibt sich Jesus Christus aber nicht zufrieden. Es heißt in der heute gehörten Feldpredigt26 :

"Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für ein Dank steht euch zu? Denn auch die Sünder lieben jene, die sie lieben. Wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für ein Dank steht euch zu? Denn auch die Sünder tun dasselbe."

und weiter

"...liebet eure Feinde, tut Gutes"

Es geht nicht um freundlichen Umgang mit Menschen, die wir lieben27 . Ein solches Unterfangen sollte eine Selbstverständlichkeit, ja nicht einmal der Erwähnung wert sein.28 

Feindesliebe – eine Utopie?

Nur zu oft mangelt es aber an Freundesliebe bereits im engsten familiären Bereich: Wieviel Zwietracht gibt es in Familien? Wie gehe ich mit Vater und Mutter um? Reicht denn der monatliche Besuch im Altenheim? Und lässt sich die Feindesliebe wirklich so schnell als Utopie abtun?29  Müssen Scheidungen so brutal verlaufen? Warum können wir nicht menschlicher, großmütiger sein, verzeihen?

"Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein."30

Nächstenliebe als Fremdenliebe

Über den vertrauten familiären Kreis gibt es neben Feindes- und Freundesliebe vielleicht noch einen Dritten Bereich der Nächstenliebe: die Fremdenliebe.

• Hilfe gegenüber Dritten

In einem ersten Schritt bedeutet dies Hilfe. Und tatsächlich ist die Spendenbereitschaft der Deutschen gerade jetzt vor Weihnachten enorm. Sicherlich sind finanzielle Spenden zu begrüßen. Nur: Sind solche anonymen, auf das Finanzielle begrenzte Spenden nicht auch sehr oft sehr bequem? Kann dies schon alles sein?

"Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt".31

• Offenheit und Interesse am Fremden als Nächsten

Vorurteile und Verletzungen entstehen oft, weil ich den anderen nicht kenne.

– Als ich in Sydney meine Unterkunft bezog, unterstützten mich die noch wildfremden Nachbarn tatkräftig beim Einrichten meines Hauses. In Deutschland kenne ich kaum meinen Nachbarn, der Zugezogene bleibt nicht selten ein Leben lang ein Fremder.

– Oder noch stärker: In Sydney haben uns fremde Menschen eingeladen – zu Straßenfesten, ja selbst zu Weihnachten – in Deutschland ein Unding?

–Tun wir uns nicht schon oft beim Grüßen schwer32 ?

Gegenüber wie vielen Fremden habe ich mich in den letzten Jahren noch geöffnet? Oder bin ich bequem in dem vertrauten Kreise steckengeblieben? Wie groß ist meine Gastfreundschaft? Die Integration von Fremden, sei es den Zugezogenen, den Ausländern, den Asylanten kann nur gelingen, wenn wir auf ihn zugehen und ihn aufnehmen.

In der Bibel wendet sich Jesus Christus ganz selbstverständlich dem Fremden zu: offen, aufmerksam und großherzig. Die Samariterin am Jakobsbrunnen33  oder der römische Hauptmann von Kafarnaum34  waren Nichtjuden, Fremde.

• Persönliches Engagement dem Fremden gegenüber

Wenn es um Offenheit dem Fremden gegenüber geht, wenn es um Hilfe geht – wo haben wir beides miteinander verbunden?

– Wo helfe ich Menschen, die Pflege und Anteilnahme bedürfen?

– Wer bei den jüngsten rechtsradikalen Gewalttaten wieder mehr Staat fordert, gibt den Schwarzen Peter viel zu schnell weiter: Nicht nur der Staat, sondern du und ich, jeder Einzelne von uns ist gefordert, um für die Schwächeren in der Gesellschaft einzutreten?35 

In der Bibel hilft Jesus den Kranken, er heilt die Aussätzigen oder Gelähmten36. – Vor Jahren rief die Augsburger Allgemeine Zeitung dazu auf, Fremde zu sich nach Hause zu Weihnachten einzuladen. Jede Einladung war in meinen Augen eine christliche Tat – aktiv gelebtes Christentum.

• Nochmals: Glaube und Tat

Glaube und Liebe bedingen einander: Ohne Glaube keine Liebe, aber ohne Liebe oft auch kein Glaube. Mit der "Tat" als heutigen Thema wollte ich mich gegen das Nichtstun wenden, aber auch gegen jene Gesinnungsethik, die nur redet, aber nicht hilft.

Auf das Recht und die Gesellschaft können wir die Verantwortung nicht abschieben: Die Gesellschaft sind wir.

Jesus Christus gab sein Leben für uns. Mehr als das Leben kann man nicht geben. Und wir sind noch nicht einmal bereit, dem anderen ein klein wenig Zuneigung zu geben, unsere Bequemlichkeit mit ein klein wenig Courage zu überwinden?

Die Feier der Geburt Jesu ist ein guter Anlass für den ersten Schritt.

Mit Erich Kästner möchte ich schließen:

"Es gibt nichts Gutes
Außer: Man tut es".37

Amen.

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Augsburg, 10. Dezember 2000   
Prof. Dr. Thomas M. J. Möllers
Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung
Universität Augsburg
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ANMERKUNGEN

  1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Hrsg. v. Erich Trunz, München 10. Aufl. 1976, Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer I, V. 1224 - 1237.

  2 Hierzu Hans Arens, Kommentar zu Goethes Faust I, Heidelberg 1982; Edgar Neis, Johann Wolfgang Goethe, Faust Teil I, 4. Aufl. Hollfeld 1979, S. 75, 83.

  3 S. die Frage von Gretchen an Faust: "Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?", Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil, Marthens Garten; vertiefend Jaroslav Pelikan, Faust the Theologian, New Haven 1995; Osman Durrani, Faust and the Bible, Bern 1977.

  4 Johannes 1,1.

  5 Weil die Tat letztlich durch die völlige Abwesentheit von religiösen Sinnbeziehungen definiert sei, könne Faust kein Vorbild für uns sein, s. zu diesem Meinungsstreit die Nachweise bei Osman Durrani (Fußn. 13), S. 62; Hans Arens (Fußn. 12), S. 149 f.

  6 Genesis, 1. Buch Moses, 1, 3 ff.

  7 Unter Hinweis auf sein autobiographischen Werk "Dichtung und Wahrheit", für den Hinweis auf diese Ansicht danke ich Herrn Studentenpfarrer Thomas Schwartz.

  8 Allerdings scheint Faust sich nicht wirklich um bibelexegistische Originalität zu bemühen, lauten die vorgetragenen Verse doch "Geschrieben steht...", "Es sollte stehn..." und "schreibe getrost...", Hans Arens (Fußn. 12), S. 147; Osman Durrani (Fußn. 13), S. 59.

  9 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, beschlossen am 31.10.1999 in Augsburg, zu finden unter http://www.rechtfertigung.de

  10 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Fußn. 19), Rdnr. 15.In dieser Rechtfertigung empfangen die Gerechtfertigten Christus Glaube, Hoffnung und Liebe und werden so in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Fußn. 19), Rdnr. 27.

  11 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Fußn. 19), Rdnr. 37.

  12 Prägnant Matthäus 22, 37 – 40: Gottesliebe und Nächstenliebe.

  13 Exodus, 2. Buch Moses, 13 ff.

  14 Exodus, 2. Buch Moses, 20, 1.

  15 Lukas, 7, 1.

  16 Lukas  15, 11.

  17 Lukas, 5, 12, 17.

  18 Viele Verbraucherschutzgesetze helfen dem Einzelnen.

  19 Heftig umstritten ist, ob die Menschenwürde dem christlichen Leitbild folgt oder gerade gegen das Christentum erkämpft werden mußte, s. hierzu Horst Dreier in Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Tübingen 1996, Art. 1 Rdnr. 6 ff. Zu recht ist deshalb die Menschenwürde als erste Vorschrift der Grundrechtscharta der Europäischen Union aufgenommen worden.

  20 Denn die Pflichten, im Zivilrecht einen Vertragspartner gegen seinen Willen aufgezwungen zu bekommen, sind eng gesetzt.

  21 Sicherlich könnte ich das Zivilrecht noch mehr aufnehmen übernehmen als bisher, s. jüngst instruktiv der Beitrag von Kurt Biedenkopf, Gewalt überwinden – Die politische Kultur schützen, FAZ 2000 v.17.8.2000. Antje Vollmer, Ethisches Fundament. Wie sich Zivilgesellschaft und Rechtsstaat ergänzen, EVKOMM 8/2000, 19 ff. Für eine stärkere Beteiligung des Bürgers im Umweltrecht s. Thomas M. J. Möllers, Der Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht, Tübingen 1996.

  22 Der Duden spricht von "Mut, seine Meinung ohne Rücksicht auf die Folgen in der Öffentlichkeit zu äußern" Aber ist das wirklich schon alles?, s. Duden, Deutsches Universal-Wörterbuch, Mannheim 1983.

  23 So lebensnotwendige Versicherungen, wie die Reiserücktrittsversicherung oder die Fahrradversicherung finden reißenden Absatz.

  24 Immer wieder war ich überrascht, dass sanitäre Einrichtungen an den Stränden, die Grillplätze, Spielgeräte, blitzblank sauber waren und nicht, wie so oft bei uns – in kürzester Zeit verdreckt.

  25 Gegenüber Dritten ist es die Goldene Regel in Erwartung einer Gegenleistung. Die Goldene Regel findet sich schon bei Matthäus, Lukas, Christian Thomasius und später leicht variiert bei Kant als kategorischer Imperativ. S. Matthäus, 7, 12: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, sollt ebenso auch ihr ihnen tun, Ähnlich Lukas 6, 31: Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so sollt auch ihr ihnen tun, Christian Thomasius, Fundamenta Juris naturae et Genitum, Lib I. Cap IV VI §§ 40 – 42: Quod vis, ut alii sibi faciant, tute tibi facies. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 7. Auch juristisch findet sich diese Art von Reziprozität in vielen Bereichen. Es ist das klassische "do ut des"; ich gebe, weil Du gibst, eine Regel, die jedem Kaufvertrag zugrunde liegt. Dieses Gerechtigkeitsmodell hat unter anderem in dem AGB-festen § 320 BGB seinen Ausdruck gefunden, wonach die Leistungen Zug um Zug zu erbringen sind, die Gegenleistung also nur gefordert werden kann, wenn die eigene Leistung angeboten wird. Zum Gedanken der Reziprozität, des do-ut-des siehe die zahlreichen Beiträge in Raimund Jakob/Wolfgang Fikentscher (Hrsg.), Korruption, Reziprozität und Recht, Bern 2000.

  26 S. die Feldrede von Lukas 6, 31 – 36; s. auch Matthäus, 5, 46 - 48.

  27 Dabei soll nicht übersehen werden, dass es oft schon im engeren familiären Bereich am freundlichen Umgang miteinander fehlt.

  28 Noch stärker Josef Ernst, Das Evangelium nach Lukas, Regensburg, 1977, S. 227: "Liebe, die auf Gegenseitigkeit aus ist, verdient diesen Namen nicht."

  29 Josef Ernst Fußn. (38), S. 226 schreibt: "Als ethische Normen sind solche 1984, S. 9 spricht von einem "Weltrekord an Moralität". Deutlich positiver dagegen die Beiträge in Volker Hochgrebe (Hrsg.), Provokation Bergpredit, Stuttgart 1982.

  30 Johannes, 8, 1.

  31 Lukas, 18, 18.

  32 In Sydney begrüßten mich wildfremde Menschen mit dem bekannten "How are you doing", dem "Wie geht es Ihnen?" und erwarteten neben einer Antwort auch eine entsprechende Rückfrage. Wer dagegen bei uns in Deutschland den Sitznachbarn in der U- oder Straßenbahn anspricht, gilt als aufdringlich.

  33 Johannes 4, 1.

  34 Matthäus 8, 5 ff.

  35 Hauptsächlich wegen ihrer Taten faszinieren uns auch heute noch Personen, wie Albert Schweitzer, Mutter Theresa, Pater Rupert Mayer, Dietrich Bonhoeffer oder auf politischer Ebene Martin Luther King und Mahatma Ghandi.

  36 Lukas, 5, 12, 17.

  37 Erich Kästner, Moral.S. auch das Gedicht "Tat" von Dietrich Bonhoeffer:

"Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichen Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen."

Prof. Dr.
Michael Feucht

Ende gut - alles gut ?

Im Namen des Vaters,
und des Sohnes,
und des heiligen Geistes.
Amen.

I Einleitung

Liebe Studenten,
liebe Kollegen,
liebe Gemeinde,

ich freue mich, mit meinen Gedanken am heutigen Abend einen Beitrag zu der in diesem Wintersemester 2000/2001 neu ins Leben gerufenen Initiative der "Augsburger Hochschulgottesdienste" leisten zu dürfen. Aus diesem Grund möchte ich mich bei allen, die diese Idee entwickelt und umgesetzt haben, und ganz besonders bei Hochschulpfarrer Thomas Schwartz, der mit seiner zunächst ganz unverbindlichen Einladung dafür verantwortlich ist, dass ich heute hier stehe, recht herzlich bedanken.

Ich habe meine Ausführungen mit der Frage "Ende gut – alles gut?" überschrieben. Diese Frage kam mir in den Sinn, nachdem ich im alten Testament auf folgende Aussage des Predigers Salomo gestoßen war: "Der Ausgang einer Sache ist besser als ihr Anfang."1. 

Dieser Satz machte mich nachdenklich. Unser Leben ist geprägt von immer wiederkehrenden Zyklen aus Anfängen, Aktivitäten und Geschehnissen, sowie Resultaten oder – wie es in genanntem Satz heißt – Ausgängen, also dem Ende einer Sache. Meine Wissenschaft, die Betriebswirtschaftslehre, nennt einen solchen Zyklus Prozess und ich muss Ihnen gestehen, dass ich mir zwar aus unternehmerischer Sicht durchaus schon Gedanken darüber gemacht habe, was einen "guten" Prozess, z. B. in der Produktion eines Unternehmens, charakterisiert, aber bezogen auf unser tägliches Leben war mir diese Fragestellung fremd. "Der Ausgang einer Sache ist besser als ihr Anfang" – ist es tatsächlich ausschließlich das Resultat einer Aktivität, das den menschlichen Wert einer Handlung determiniert, oder müssen nicht vielmehr Anfang und Ende, verknüpft durch die Transaktion in einem geschlossenen Wertgefüge zum Gelingen jedes Vorhabens beitragen?

Ich möchte aufbauend auf der Frage "Ende gut – alles gut?" über zwei Themenkomplexe reden. In einem ersten Schritt will ich mit Ihnen über die wünschenswerten Ziele menschlicher Aktivität nachdenken, um dann in einem zweiten Schritt aus der fehlenden Information über die Zukunft die Notwendigkeit einer planvollen Lebensgestaltung abzuleiten. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen darzustellen, warum ein wohlgeplanter Anfang unter Berücksichtigung eines individuellen und wohlüberlegten Zielsystems nicht nur aus der Sicht des Betriebswirts einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen einer Sache beiträgt und somit erst ein guter Anfang, ein zielgerichtetes Vorgehen und ein gutes Ende in Kombination dazu führen können, dass wirklich "alles gut" ist.

Wir sehen uns heute gerne als aktive, dynamische, erfolgreiche Menschen, die dabei selbstverständlich sozial und ökologisch engagiert sind. Zur Erfüllung dieses Bildes verfolgen wir Ziele, deren Zielerreichung wir zu quantifizieren versuchen. Leicht zu quantifizieren sind hierbei materielle Zielgrößen, wobei mir direkt der Werbespruch "mein Haus, mein Auto, mein Pferd" in den Sinn kommt. Im vergangenen Jahr fragte mich ein Student im zweiten Studiensemester, welchen Studienschwerpunkt er denn wohl am besten wählen solle, um möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen.

Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel aus unserer wirtschaftlichen Realität, das meines Erachtens zeigt, welchen hohen Stellenwert materielle Ziele in unserer Gesellschaft haben. Betrachten wir die Aktienmärkte des vergangenen Jahres. Das Anlegerverhalten privater Investoren war im wesentlich von zwei Motiven geprägt, nämlich von Habgier und von Neid. Einerseits stand da der Wunsch nach schnellem Geld ohne Arbeit und andererseits die Ansicht, "was mein Nachbar kann, kann ich auch". Daraus resultierte im Jahr 2000 ein zwar nicht ziel- aber zumindest planloses Verhalten der sogenannten Kleinanleger, die sich Lemmingen gleich in den Markt stürzten und dadurch extreme Kursentwicklungen der Werte nach oben und nach unten auslösten und verstärkten.2 Konkrete Planungen oder übergeordnete langfristige Zielsetzungen waren nur selten erkennbar und wenn der eine oder andere durch Fortune, nicht durch Expertise, dennoch mit einem blauen Auge davongekommen ist, so mag er sich mit einem Seufzer der Erleichterung "Ende gut – alles gut" gedacht haben.

Erstaunlicherweise garantiert die Existenz eines Bündels von verfolgten Zielen – mögen diese auch, wie eben dargestellt, nicht immer sinnvoll oder wünschenswert sein – noch nicht ein wirklich planvolles und gesteuertes Vorgehen. Ich denke hierbei an meine Freunde bei Unternehmensberatungsgesellschaften, von denen ich höre, dass Projekte in den beratenen Unternehmen grundsätzlich unter extremem Zeitdruck gestartet werden. So kommt es, dass diese Projekte schlampig geplant beginnen und dann möglichst schnell abgewickelt werden. "Quick and dirty" nennt der Unternehmensberater diese Vorgehensweise, und er ist froh, wenn ein solches Projekt dennoch die gesetzten Ziele erreicht.

II Das menschliche Zielsystem

Ziele in den Wirtschaftswissenschaften

Lassen Sie mich die Frage betrachten, warum materielle Zielsetzungen in unserer Gesellschaft eine so große Rolle spielen.

Mein schwäbischer Landsmann Manfred Rommel3, der ehemalige Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, hat einmal gesagt: "Es ist gerade heute wichtig zu begreifen, dass die Summe möglichen Glückes der Menschen nicht eine Funktion des Bruttosozialprodukts in den Preisen von 1970 ist."4

Betrachten wir aber die Zielgrößen, mit denen unsere Politiker im Jahresrückblick die eigene Leistung und die Lebensqualität der Bürger bewerten, so stellen wir fest, dass gerade Wirtschaftswachstum, Lohn- und Gehaltsstrukturen, Inflationsrate oder Arbeitslosenquote als Maß dafür herangezogen werden, wie gut es uns geht. Nun will ich natürlich nicht sagen, dass eine niedrige Arbeitslosenquote gesamtgesellschaftlich nicht erstrebenswert sei. Nur sollten eben die nichtmateriellen Ziele, nämlich ein stabiles und glückliches Familienleben anzustreben, eine Gesellschaft, in der Freundes- und Nachbarschaftshilfe auch in den Großstädten zur Normalität zählt, in der die Bürger sich in sozialen und ökologischen Aktivitäten engagieren, wie z. B. in den Kirchen, beim Roten Kreuz, bei Umweltverbänden oder bei der freiwilligen Feuerwehr, nicht nur nachrangig erwähnt, sondern gleichwertig neben den ökonomischen Zielsetzungen angestrebt werden.

In unseren Unternehmen werden seit vielen Jahren in Befragungen die Zufriedenheit und Motivation der Mitarbeiter als erstrebenswerte Ziele angeführt.5  Die Zufriedenheit der Mitarbeiter eines Unternehmens und damit auch die erbrachte Arbeitsleistung wird maßgeblich von den eben genannten nichtmateriellen Faktoren, wie etwa einem stabilen sozialen Umfeld, beeinflusst. Dennoch erfolgt die tatsächliche Steuerung der Unternehmen heute im allgemeinen anhand der "harten" Größen Umsatz, Gewinn oder (ganz modern) der Steigerung des Shareholder Value, d.h. des Wertzuwachses der Anteilseigner. In meiner beruflichen Praxis bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft musste ich mehrere Male in Unternehmen erleben, dass die Alkoholkrankheit von Mitarbeitern, manchmal sogar in mittleren Leitungsfunktionen, von den Kollegen und Vorgesetzten ignoriert wurde. Eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers wurde nicht wahrgenommen.

Es ist offensichtlich, dass durch das Ignorieren nichtmaterieller Bedürfnisse seitens der Unternehmen nicht nur sozialer Schaden angerichtet wird, sondern gleichzeitig auch massiver ökonomischer Schaden entsteht.6  Ich halte den gesellschaftlichen Werteverlust, der meines Erachtens dadurch in der Vergangenheit stattgefunden hat, für sehr gravierend. Für die Zukunft können wir alle uns nur wünschen, dass die Unternehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung stärker wahrnehmen und mit einer Veränderung ihrer Zielsysteme den oft geforderten Wertewandel in der Gesellschaft unterstützen. Glücklicherweise sind erste erfreuliche Entwicklungen in diese Richtung zu beobachten.7

Menschliche Bedürfnisse als Motivatoren

Es ist sehr schwer, die Ziele unserer Existenz in Worte zu fassen. Nach welchen Auswahlkriterien legen wir Menschen unser persönliches Zielsystem fest? Ansätze von Maslow8  sehen die Triebkraft für das menschliche Handeln in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, hierarchisch angeordnet in sogenannten Motivgruppen. Zunächst streben wir nach der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse, das sind Essen, Trinken, Schlaf und Fortpflanzung. Für einen Menschen, der sich täglich Gedanken machen muss, wie es ihm gelingt, sich und seine Familie zu ernähren, bleibt kaum Raum, über weiterführende Ziele des Lebens nachzudenken. In einer solchen Situation scheint es tatsächlich angemessen, am Ende jedes Tages festzustellen, dass die Befriedigung des Bedürfnisses gelungen ist, und dann den Tag als gut verlaufen zu betrachten. Aber selbst hier darf natürlich der Zweck nicht die Mittel heiligen, darf die Notsituation nicht als Rechtfertigung dafür dienen, anderen Menschen Leid zuzufügen, müssen also zumindest Tun und Ergebnis zusammenwirken, um die Sache als gut einzuordnen.

Um wie viel mehr gilt dies für Menschen, die sich über die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse keine Gedanken machen müssen, wie dies für die meisten unserer Mitmenschen hier in Deutschland der Fall ist. Für uns werden sogenannte Sekundärbedürfnisse wichtig. Dazu zählen materielle Sicherheitsbedürfnisse wie etwa die Absicherung der Familie, Altersvorsorge, Versorgung im Krankheitsfall –, außerdem soziale Kontakte, ein großer Freundeskreis, Zugehörigkeit zu speziellen sozialen Gruppen, ein hohes Ansehen in der Gesellschaft und auf der obersten Ebene die Selbstverwirklichung, etwa durch künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeit neben dem reinen Broterwerb.

In diese Motivationslehre passen sich auch die genannten nichtmateriellen Zielsetzungen gut ein, solange das Engagement für den Mitmenschen oder der bewusste Verzicht auf materielle Statussymbole in der Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. Leider ist aber zu beobachten, dass insbesondere Kinder und Jugendliche von ihren Eltern und ihrem sozialen Umfeld ein Wertegerüst vermittelt bekommen, in dem der Besitz von Mobiltelefonen oder teurer Markenkleidung zu gesellschaftlichem Ansehen führt, und die Selbstverwirklichung im wesentlichen aus dem Konsum kostspieliger Freizeitaktivitäten besteht.

Was charakterisiert einen guten Menschen?

Ist ein solches Wertesystem erst einmal gesellschaftlich akzeptiert, so wird es für den Menschen ungleich schwerer, die bereits besprochenen mitmenschlichen Ziele zu verfolgen, da dann ein wahrlich uneigennütziges Verhalten gefordert ist. In den alten Wertesystemen konnte der Mensch aus dem sogenannten uneigennützigen Verhalten eben doch den persönlichen Nutzen aus der gesellschaftlichen Wertschätzung seiner Handlung ziehen. Aus dieser Überlegung rührt auch die Redensart "Tu’ Gutes und rede darüber" her.

Was charakterisiert nun unabhängig vom gesellschaftlich akzeptierten Wertesystem einen guten Menschen?

Ist nur der Mensch ein guter Mensch zu nennen, der sich am Anfang einer Handlung, eines Projektes, einer Aktivität die Ziele bewusst aus einem moralischen Wertegerüst ableitet, diese Ziele mit Nachdruck verfolgt und dann am Ende zurückblicken kann und – egal wie der Ausgang seines Tuns ist – sich zumindest nichts vorwerfen muss?

Oder kann das Ergebnis der Handlung unabhängig von den tatsächlich verfolgten Zielen und eventuell auch unabhängig von der Wahl der Mittel im nachhinein das Unternommene als gut rechtfertigen?

Ich denke, dass letzteres, also die genau die Einstellung "Ende gut – alles gut" nicht zu einer zufriedenstellenden Lebensgestaltung führen kann. Ich bin der Meinung, dass sowohl das auf einem christlichen oder sonstigem moralischen Wertegerüst aufbauende persönliche Zielsystem, als auch das an diesem Gerüst ausgerichtete Handeln nötig sind, um in Verbindung mit einem zufriedenstellenden Resultat den Menschen zu einem glücklichen und mit seinem Leben zufriedenen Menschen zu machen.

III Zukunft und Unsicherheit

Unsicherheit und Risiko als Triebkraft menschlicher Aktivität

Lassen Sie mich noch einmal auf die Planung unseres Lebens oder einzelner Aktivitäten zurückkommen. Was treibt uns denn überhaupt an, gesetzte Ziele durch geplantes Handeln erreichen zu wollen? Warum gestalten Menschen ihr Leben?

Menschliche Aktivität resultiert aus dem Nichtwissen über die Zukunft. Ein vollständig sicheres Wissen über die eigene Zukunft nähme uns jeglichen Anreiz, über die notwendigerweise bekannten Aktivitäten hinaus Engagement zu entwickeln. Wohlgemerkt resultiert dies nicht aus der Vorherbestimmtheit einer uns unbekannten Zukunft. Allein das Nichtwissen bewirkt, dass wir die Rolle, die uns selbst in der Gestaltung der Zukunft zugeteilt ist, nicht kennen, und somit ein Anreiz gegeben ist, eben doch eine Veränderung zu bewirken. Nehmen Sie an, Sie wüssten genau, was morgen passiert, und Sie wüssten auch, oder glaubten zumindest, diese Zukunft nicht ändern zu können, dann bestünde für Sie kein Anreiz, irgend eine Aktivität jenseits des Vorherbestimmten zu beginnen.

Gleichzeitig ist die Wahrnehmung der Unsicherheit der Zukunft aber auch eine notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Menschen. Erst sie gibt uns die Möglichkeit, tatsächlich etwas zu planen und zu gestalten, eine Fähigkeit, die uns als Menschen auszeichnet.

Planung zur Steuerung des Risikos

Die Unsicherheit der Zukunft lässt sich allerdings durch eine geordnete Vorgehensweise reduzieren. Insofern kann eine planvolle Vorgehensweise bei selbem Ressourceneinsatz, etwa Einbringung derselben Arbeitskraft oder Zuwendung des selben Geldbetrags einen im Vergleich zu planlosem Handeln sehr unterschiedlichen ökonomischen oder auch gesellschaftlichen Nutzen spenden.

Daraus kann man nun ableiten, dass es für eine optimale Zielerreichung notwendig ist, sich (natürlich) nicht nur der angestrebten Ziele bewusst zu sein, sondern auch im Ablauf des Prozesses das Ziel stetig im Auge zu behalten. Der Betriebswirt nennt dieses Vorgehen Controlling. Dabei darf die Messung der Zielerreichung nicht nur punktuell etwa am Ende eines willkürlich gewählten Zeitraums erfolgen, sondern es muss eine laufende Überwachung stattfinden.

Typisch für punktuelle Betrachtungen ist die von mir so genannte "private Inventur", die im allgemeinen am Ende eines abgelaufenen Jahres erfolgt. So wie in unseren Unternehmen Bestände gezählt, Umsätze und Gewinne addiert und vielleicht, wie in den vergangenen Tagen geschehen, Gewinnwarnungen ausgesprochen werden, versuchen auch viele Menschen, das abgelaufene Jahr Revue passieren zu lassen. Insbesondere nicht erreichte Ziele werden dann häufig als sogenannte "gute Vorsätze" in das kommende Jahr hinübergenommen. Man plant, mehr Zeit für die Familie zu haben oder auch nur ganz banal, sich jetzt endlich das Rauchen abzugewöhnen.

Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang - der Anfang als Chance

Am Beispiel der immer wiederkehrenden Jahreswechsel erkennen wir aber auch, dass jedes Ende, das vielleicht Enttäuschungen gebracht hat, gleichzeitig einen neuen Anfang darstellt. Es bietet sich uns die Möglichkeit, die eigenen Ziele zu überdenken, das Vergangene hinter uns zu lassen und das eigene Leben neu zu gestalten. Diese Möglichkeit bietet sich seit zwei Jahren sogar im privatwirtschaftlichen Bereich durch den sogenannten “privaten Konkurs”9 , der es Menschen in materiell verzweifelter Situation unter bestimmten Umständen erlaubt, ihre Schulden hinter sich zu lassen, und einen Neuanfang zu machen.

Wir sehen also, dass die Ungewissheit der Zukunft nicht nur Risiko bedeutet, sondern insbesondere auch immer wieder neue Chancen eröffnet. Die Möglichkeit, an der Zukunft positiv mitzuwirken, sollte uns immer stärker bewusst sein, als die Angst, an der Zukunft zu scheitern. Es ist eine Frage des positiven Denkens, dass wir in dem ewig geschlossenen Zyklus von Ende und Anfang stets den Chancencharakter des Neuanfangs wahrnehmen.

Die lenkende Kraft Gottes

Als Christen begreifen wir Gott als eine lenkende Kraft im Universum, allgegenwärtig, aber insbesondere wirkend durch uns selbst. Die bisherigen Ausführungen stehen dazu keinesfalls im Widerspruch. Vielmehr dürfen wir uns als Werkzeuge sehen, deren zielgerichteter und planvoller Einsatz durchaus im Sinne der höheren Ziele ist. Wichtig ist, dass wir im oben erwähnten Sinne freie Werkzeuge sind, dass somit unsere gestalterische Freiheit, die insbesondere auch die Freiheit umfasst, Fehler zu machen, Bestandteil der höheren Ordnung ist.

Es ist keinesfalls unmoralisch, sein Handeln durch Planung zu optimieren. Und natürlich sind auch ökonomische Zielvorstellungen nicht unmoralisch, wenn sie in ein ausgeglichenes Bündel von Zielen eingebunden sind. So ist es auch zu verstehen, dass sich kirchliche Einrichtungen und andere sogenannte Non Profit-Organisationen immer häufiger professioneller Hilfe von Unternehmensberatungsgesellschaften bei der bestmöglichen Verwirklichung ihrer Ziele bedienen.

IV Fazit

Kommen wir noch einmal auf meine Ausgangsfrage zurück. Ende gut – alles gut? Ich habe Ihnen dargestellt, warum für mich nicht nur das Ergebnis menschlicher Aktivität das Maß aller Dinge sein kann und soll. Dabei habe ich mich der Hilfsmittel meiner Wissenschaft, der Betriebswirtschaftslehre, bedient und ihnen erläutert, wie zu einem gelungenen Anfang die Zielvorstellung in einem ausgewogenen System materieller und nichtmaterieller Ziele gehört und wie die aus unserer Sicht ungewisse Zukunft unser Verhalten beeinflusst.

Ich bin überzeugt, dass zu einem erfüllten Leben notwendigerweise gehört, dass unser Tun auf der Basis eines Zielsystems geschieht, dem in der einzelnen Entscheidungs- oder Handlungssituation noch Detail- oder Unterziele hinzugefügt werden müssen. Aus diesem Zielsystem leite ich Planungen für die mir ungewisse Zukunft ab. Diese Planungen müssen notwendigerweise immer wieder angepasst und verändert werden. Doch auch persönliche Schicksalsschläge sollten unser Wertegerüst nicht zum Einsturz bringen, wiewohl sie im Einzelfall die Schwerpunkte im persönlichen Zielsystem verlagern können.

Jede Existenz, jede Handlung, jede kleine menschliche Aktivität oder jeder unternehmerische Prozess ist gekennzeichnet durch einen Anfang und ein Ende. Der Anfang eines neuen Lebens birgt nicht nur Unsicherheit und Risiko, sondern vielmehr die Chance eines Menschen, zu gestalten, zu verändern, zu verbessern und Gutes zu tun. In diesem Sinne hoffe ich, dass es mir gelingen wird, meinem ungeborenen Sohn das Wertegerüst zu vermitteln, das es ihm ermöglicht, sein Leben gut und erfüllt zu leben. Ihm möchte ich meine Gedanken am heutigen Abend hier in der St. Moritzkirche widmen.

Lassen Sie mich mit dem kleinen Gedicht "Lebenszweck"10  von Eugen Roth schließen:

Ein Mensch, der schon als kleiner Christ
Weiß, wozu er geschaffen ist:
"Um Gott zu dienen hier auf Erden
Und ewig selig einst zu werden!" –
Vergißt nach manchem lieben Jahr
Dies Ziel, das doch so einfach war,
Das heißt, das einfach nur geschienen:
Denn es ist schwierig, Gott zu dienen.

Amen.

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Augsburg, 10. Dezember 2000   
Prof. Dr. Michael Feucht
Fachbereich Betriebswirtschaft
Fachhochschule Augsburg
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ANMERKUNGEN

  1 Prediger 7,8

  2 Der Börsenindex DAX verlor im vergangenen Jahr 7,54 % seines Wertes. Gemessen am Höchststand im März betrug das Minus sogar 19,98 %. Der NEMAX-50 am neuen Markt verlor seit seinem Höchststand am 10. März 2000 bis zum Jahresende 2000 70,38 % (Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 2.1.2001). Seither verlor der NEMAX-50 noch einmal gut ein Viertel seines Wertes.

  3 Manfred Rommel, geb. am 24. Dezember 1928, war von 1974 bis 1996 Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart

  4 So zu finden in “Manfred Rommels gesammelte Sprüche”, Gefunden und herausgegeben von Ulrich Frank-Planitz, Stuttgart 1988

  5 Ganz aktuell darüber der Wirtschaftsethiker Dr. Ulrich Thielemann in den VDI nachrichten vom 22. Dezember 2000. Er verweist auf drei internationale Studien aus den Jahren 1961 bis 1987, aus denen sich ergibt, dass die Aussage “Eine vernünftige Ethik ist langfristig gut fürs Geschäft” sich unter Managern und Unternehmern außerordentlich hoher Zustimmung erfreut.

  6 Zumindest langfristig stimmt dem auch Thielemann zu.

  7 Einzelne große multinationale Unternehmen, insbesondere aus dem amerikanischen Kulturkreis, lassen mittlerweile nicht nur ihre Umweltaktivitäten, sondern auch ihr soziales Engagement von unabhängiger Seite (i.a. von Wirtschaftsprüfungsunternehmen) beurteilen und zertifizieren.

  8 Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, New York 1954; Erläuterungen zu verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen in der Betriebswirtschaftslehre findet man in Dieter Schneider, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 3. Auflage, München 1987, S. 208 ff.

  9 Vgl. Insolvenzordnung (zuletzt geändert am 19.12.1998), insbesondere den Achten Teil. Restschuldbefreiung (§§ 286 bis 303) und den Neunten Teil. Verbraucherinsolvenzverfahren und sonstige Kleinverfahren (§§ 304 bis 314)

  10 Eugen Roth, Ein Mensch, München 1952

Prof. Dr.
Ulrich Eckern

Wenn der Mensch zum Schöpfer wird

Liebe Gäste, liebe Freundinnen und Freunde der Augsburger Hochschulgottesdienste!

Als ich vor etwa einem halben Jahr mit meinem Kollegen Hanspeter Heinz über ein mögliches Thema für den heutigen Abend sprach, waren meine Vorstellungen, ich gebe es gern zu, noch sehr unpräzise. Gedanken eines Naturwissenschaftler zur Schöpfung, zur Entstehung der Welt? Gedanken zur besonderen Verantwortung der Wissenschaft für die Konsequenzen ihrer Forschungen und Entdeckungen? Verantwortung der Wissenschaft am Beispiel der Atomenergie oder am Beispiel der immer häufiger auftretenden Umweltkatastrophen, die wir - insbesondere aufgrund der Gegensätze zwischen Industrienationen und Staaten der dritten oder vierten Welt - mit zu verantworten haben? Auch war mir letzten Sommer nicht ganz wohl: Was würden die neuesten Entwicklungen, Techniken und Erkenntnisse der biologischen Forschung für uns Menschen in den nächsten Jahrzehnten bedeuten und an Fortschritt bringen? Oder an Gefahren? Was für mich zuerst nur ein abstraktes Thema war, ist, wie Sie alle wissen, inzwischen ein Thema von brennender Aktualität geworden: Während wir uns an künstlich erzeugte, sogenannte "geklonte" Tiere bereits gewöhnt haben - Mäuse, Kaninchen, ein Schaf namens Dolly -, lauten die fast täglichen Schlagzeilen inzwischen:

"Klonen von Embryonen" (SZ, 21.12.2000)
"Herzen aus dem Reagenzglas" (SZ, 21.12.2000)
"Die Mär vom Leben ohne Krankheit" (SZ, 30.12.2000)
"Klonen ohne Grenzen?" (SZ, 21.12.2000)
"Der Affe aus dem Reagenzglas" (SZ, 12.01.2001)

Aber auch, als ein Beispiel für mögliche Konsequenzen oder Schreckensbilder, im Zusammenhang mit der - eigentlich seit Jahren bekannten - sogenannten BSE-Krise:

"Weil es um die Wurst geht" (SZ, 28.12.2000)

An dieser Stelle, ich möchte es vorweg nehmen, beschränke ich mich auf wenige Gedanken zu diesem Themenkreis - der die Menschheit nicht nur die kommenden Monate und Jahre, sondern sicher die kommenden Jahrzehnte beschäftigen wird!

Aber zuerst zu

Gott als Schöpfer,

und wie es in der Bibel niedergeschrieben ist:

1. Buch Mose, 1. Kapitel

1 Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde.
2 Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.
3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht.
4 Und Gott sah das Licht, dass es gut war; und Gott schied das Licht von Finsternis.
5 Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag.

An den folgenden Tag schuf Gott, der Bibel folgend, die Erde und die Meere, die Pflanzen, die Tiere, und schließlich:

26 Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich! Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen!
27 Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.
28 Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und füllt die Erde, und macht sie (euch) untertan; und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen!
31 Und es geschah so. Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: der sechste Tag.

Das Ergebnis der Schöpfung - die Erde, die Welt, oder, wie wir heute sagen würden, das Universum mit all seinen Planeten, Sonnen und Galaxien - wird an anderer Stelle (Psalm 104) so charakterisiert:

Herr,
wie unendlich ist dein Wirken!
Alles hast Du gemacht,
die Erde und alles, - eine Summe deiner Weisheit.

"Macht Euch die Erde untertan! Herrscht über ... alle Tiere, die sich auf der Erde regen!" Das hört sich zunächst wie ein Freibrief für die Menschen an, aber es ist auch von der Verantwortung die Rede:

1. Buch Mose, 2. Kapitel

15 Und Gott, der Herr, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bebauen und ihn zu bewahren.

Vielen Menschen, und insbesondere uns Physikern, fällt es natürlich schwer, die Schöpfungsgeschichte ganz wörtlich zu nehmen - auch wenn lange versucht wurde, die Darstellung der Bibel zu einer naturwissenschaftlichen Wahrheit zu erheben, wie vor einigen Jahren noch in einigen Staaten der USA. Aufgrund der Ergebnisse neuester, noch nicht abgeschlossener Forschungen, ist unser Universum etwa 15 Milliarden Jahre alt, am Anfang war ein "Punkt" mit fast unvorstellbar großer Energie; Raum, Zeit, Energie und Masse waren auf komplizierte Art und Weise miteinander verflochten, die verschiedenen physikalischen Kräfte bestimmten vereinheitlicht und in symmetrischer Form das Geschehen. Aber schon in den ersten paar Minuten entwickelte sich das Universum in eine bestimmte Richtung - in die, die wir heute kennen. War diese Richtung, die die Welt eingeschlagen hat, Zufall? Gab es nur eine mögliche Richtung? Der wohl größte Physiker dieses Jahrhunderts, Albert Einstein, hat einmal den berühmten Satz geprägt:

Gott würfelt nicht!

Eine Antwort auf diese Fragen kann ich nicht geben, aber noch einen Hinweis. In der Tat deutet vieles darauf hin, dass es am Anfang eine Wahlmöglichkeit gab. Das System "Welt" - der Begriff des Systems ist auch in der Physik beliebt - hätte sich in eine ganz andere, für uns kaum vorstellbare Richtung entwickeln können. Wir sprechen davon, dass "spontan" eine Richtung ausgewählt wurde. Aber bei allen Fortschritten in der Wissenschaft hat meines Erachtens immer noch Bestand, was im Prediger 8 zu lesen ist:

16 Als ich mein Herz darauf richtete, Weisheit zu erkennen,
17 da sah ich am Ganzen, ... dass der Mensch das Werk nicht ergründen kann ... Und selbst wenn der Weise behauptet es zu erkennen, er kann es doch nicht ergründen.

Diese Erfahrung machen die Physiker immer wieder: Obwohl wir viele Gesetzmäßigkeiten verstanden haben, stoßen wir doch immer wieder auf neue Fragen!

Der Mensch als Schöpfer

Die Menschen können und dürfen in die Natur eingreifen, das ist meines Erachtens keine Frage. Im einfachsten Fall bedeutet dies, dass wir ein naturgegebenes Material verändern, um z.B. ein Werkzeug herzustellen, mit dem wir dann andere Dinge leichter erledigen können. Auch benutzen wir Ergebnisse aus der chemischen Forschung, um Medikamente herzustellen oder die Erträge der Landwirtschaft zu vermehren - sicher kein ethisches Problem, oder lauern schon bei so einfachen Beispielen Gefahren? Nicht vergessen sollten wir, dass der massenhafte Gebrauch von Chemikalien in den "zivilisierten" Ländern sehr problematisch werden kann: Die Trinkwasserqualität in Europa ist bereits jetzt so schlecht, dass die negativen Konsequenzen für die folgenden Generationen absehbar sind. Und, wie wir alle wissen, Medikamente lassen sich missbrauchen; auch die Auswirkungen von chemischen Kampfstoffen sind schrecklich! Schon dieses "einfache" Beispiel zeigt, dass Nutzen und Missbrauch wissenschaftlicher Ergebnisse oft dicht beieinander liegen, und dass wir verantwortungsbewusst mit diesen Ergebnissen umgehen müssen bzw. müssten - was leichter gesagt als getan ist, dessen bin ich mir bewusst.

Bei den genannten Beispielen ist es auf den ersten Blick relativ einfach: Heilen von Krankheiten ist gut, Vergiften von Menschen mit chemischen Kampfstoffen ist böse. Auch würden wir sicher im Zusammenhang mit der Entwicklung chemischer Stoffe nicht davon sprechen, dass der Mensch zum Schöpfer geworden sei. Können wir überhaupt in irgendeinem Sinn davon sprechen, dass der Mensch zum "Schöpfer" wird, oder ist dieser Begriff Gott vorbehalten? Die einfache - und bequeme - Antwort: Gott ist der Schöpfer, er hat alles gemacht und alles ist vorbestimmt. Wie gesagt, dieser Standpunkt ist bequem; die Menschen haben aber Entscheidungsfreiheit, und sie können "gut" und "böse" unterscheiden - obwohl diese Begriffe sich im Laufe der Jahre verändern und von Kulturkreis zu Kulturkreis verschieden sein können.

Worum geht es aber nun genau bei den in den letzten Monaten, teilweise erbittert und verbittert geführten Diskussionen um das "Klonen" und, als Oberbegriff, die "Gentechnik"? Für einen kleinen Aufsatz (in Der Tagesspiegel, 02.01.2001) hat Julian Nida-Rümelin, 1991-93 Professor für Bio-Ethik in Tübingen und seit einigen Wochen neuer Kulturstaatsminister, einen Titel gewählt, in dem die wichtigen Stichworte vorkommen:

"Wo die Menschenwürde beginnt - Das Klonen von Embryonen: ein Heilsweg der Medizin oder der Anfang eines gespenstischen Menschenbildes? Auch Deutschland kann einer neuen bio-ethischen Debatte nicht mehr ausweichen."

Unter "Gentechnik" als Oberbegriff verstehen wir alle neueren Entwicklungen und Forschungsergebnisse, die es erlauben, Gene detailliert zu untersuchen, ihre Funktionsweise zu verstehen und sie gezielt zu verändern - daher der Zusatz "Technik". Wieder - und im Folgenden mehrmals - ein Zitat aus dem genannten Aufsatz:

"Befürworter wie Gegner der Gentechnik bewegten sich in den vergangenen Jahren aufeinander zu. Die Gentechnik wurde als ein integraler Bestandteil der modernen Naturwissenschaft anerkannt und ihre behutsame Verwertung unter den bestehenden rechtlichen und ethischen Kautelen (Vorbehalten) akzeptiert."

Als Beispiel sei die Behandlung von Kindern (in Frankreich) genannt, die an einer Immunschwäche litten. Mit Hilfe einer Gentherapie wurde gesundes Erbgut in die Immunzellen der Kinder eingeschleust, so dass sie nun ein ganz normales Leben führen können. Eine Anwendung, bei der sicher niemand ein ethisches Problem sieht - obwohl eine Gentherapie zur Zeit und insbesondere in schweren Fällen eher selten von Erfolg gekrönt ist. Sehr, sehr schwierig wird es aber bei anderen Anwendungen, und das ist das grundsätzlich und qualitativ Neue, bei denen auf weibliche Eizellen zurück gegriffen werden muss. Zum Beispiel, um Organe für einen bestimmten Menschen zu züchten. Dabei werden in einem ersten Schritt Zellkerne eines erwachsenen Menschen in eine entkernte menschliche Eizelle eingeführt, die sich dann in den ersten Tagen wie eine befruchtete Einzelle verhält, allerdings mit der "erwachsenen" genetischen Information. Die Zelle wird aber nicht direkt verwendet, vielmehr werden aus ihr sogenannte embryonale Stammzellen gewonnen, die - so die Hoffnung - sich für Transplantationszwecke nutzen lassen.

Ich zitiere wieder Nida-Rümelin:

"Die Kritiker stützen sich vor allem auf ein Argument: Das Klonen menschlicher Embryonen sei mit der Menschenwürde unvereinbar. Auch Embryonen seien schon menschliche Wesen und stehen daher unter einem besonderen Schutz. Richtig an diesem Argument ist, dass jedes einzelne Embryo die vollständige genetische Ausstattung eines menschlichen Individuums hat und dass es unter günstigen Bedingungen zu einem menschlichen Individuum heranwachsen würde. Liegt es daher nicht auf der Hand, dass das Klonen eines Embryos die Menschenwürde beschädigt? Die Antwort ist für mich: zweifellos nein." (meine Hervorhebung)

Konsens besteht sicher bei der zentralen Aussage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Aber wann, zeitlich gesehen, beginnt das schützenswerte Menschsein? Im Moment der Befruchtung, ob natürlich oder künstlich, oder erst nach frühestens 14 Tagen, wenn die "Individuation des Keimes so weit fortgeschritten ist, dass man von der geschichtlichen Existenz eines einzigen und unteilbaren Menschen sprechen kann"? (Franz Böckle, Probleme um den Lebensbeginn; in: Handbuch der christlichen Ethik) Das britische Parlament hat sich offenbar den letzteren Standpunkt zu eigen gemacht bei seiner Entscheidung im letzten Dezember - einer Entscheidung, das sollten wir anerkennen, die den Abgeordneten nicht leicht gefallen ist. Trotzdem waren es nach langen Diskussionen 68% der Abgeordneten des Unterhauses, die für die Gesetzesänderung stimmten: Nach dem inzwischen in Kraft getretenen Gesetz ist in Großbritannien das Klonen von menschlichen Embryonalzellen für therapeutische Zwecke zulässig.

Nicht erlaubt ist weiterhin das Klonen im engeren Sinne, d.h. zum Zwecke menschlicher Fortpflanzung. Dieses wäre, nach meiner Meinung, ein weiterer - schrecklicher - Schritt: Produktion von Menschen nach Maß, Babies mit bestimmten, fest vorgegebenen Eigenschaften - wer legt denn dann Maß und Eigenschaften fest?

Nochmals ein Zitat aus dem Aufsatz von Nida-Rümelin:

"Auf die Möglichkeit des Klonens menschlicher Individuen, das heißt auf die Möglichkeit ein genetisch (fast) gleiches Individuum zu schaffen, sind die etablierten Normen und Werte jedoch nicht vorbereitet. Das Streben nach möglichst gesundem, vielleicht leistungsfähigem oder besonders kreativem Nachwuchs bewegte sich bisher in den engen Grenzen des natürlich (und sozial) Unbeeinflussbaren. Die gentechnischen Möglichkeiten und insbesondere die des Klonens von Menschen heben einen wesentlichen Teil dieser Grenzen auf. Daher halte ich die Sorge für berechtigt, dass die Legalität des Klonens menschlicher Embryonen ein erster Schritt zur Technologie des Menschenklonens werden könnte."

Und weiter:

"Die Gesellschaft ist auf die Option des Menschenklonens nicht vorbereitet. Ich sehe gegenwärtig keinen gewichtigen Grund, der für die Entwicklung dieser Option spricht. Wenn sich die britische Entscheidung als ein erster Schritt zum Menschenklonen herausstellen sollte, dann war sie vermutlich falsch."

Dem möchte ich mich voll anschließen. Aber es ist auch richtig, dass wir uns alle der Diskussion stellen müssen, dass wir alle Verantwortung übernehmen müssen, dass wir dies nicht nur den Politikern überlassen dürfen. Auch müssen wir realistisch bleiben: Aus welchen Motiven auch immer, es wird Wissenschaftler geben, die das Klonen - im engeren Sinn - versuchen werden; es wird Frauen geben, die ihre Eizellen zur Verfügung stellen; es wird sicher keinen internationalen Konsens über ethische Prinzipien in dieser Frage geben. Und dies bedeutet letztlich, dass in einigen Jahrzehnten geklonte Menschen in dieser Welt leben werden - und dann müssen wir uns klar werden, wie wir mit ihnen umgehen, denn auch sie sind Gottes Geschöpfe.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Augsburg, 11. Februar 2001           
Prof. Dr. Ulrich Eckern
Lehrstuhl für Theoretische Physik II
Universität Augsburg
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