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Prof.
Dr. Sabine Döring-Manteuffel
Volkskunde
Universität Augsburg |
Das Stundenglas
Lebensrhythmen und Lebensordnungen
Als im Mittelalter,
um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, den Bürgern der Stadt London
als Erste durch eine Uhr mit einem mechanischen Schlagwerk die kommenden
Stunden angekündigt wurden, mögen sie irritiert auf die Türme von Westminster
Hall geschaut haben, von denen die Schläge ausgingen. Es mag ihnen wohl
kaum bewußt gewesen sein, was das für die Zukunft bedeuten würde; doch
alsbald schlugen nicht nur von den berühmten Kirchen großer Städte, sondern
auch von den Rathäusern in Stadt und Land, Uhren den Stundentakt. Bis
dahin hatten die Glocken von den Kirchen zum Gebet gemahnt, aber sie hatten
doch nur indirekt den Arbeitsalltag bestimmt. Fortan riefen Uhren jetzt
die Menschen zur Kirche und zur Arbeit, und das stündliche Geläut wurde
für jedermann, von der Wiege bis zur Bahre, zum prägenden Takt, zum Metronom
seiner Existenz. Die Rhythmen des Lebens wurden an dieser Zeitenwende
vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit neu bestimmt. Alte Ordnungen traten
zurück, andere bauten sich auf, und die kommende Epoche schuf sich selbst
mehr und mehr eine Lebensordnung, die sich am Schlag und Puls der Zeit
orientierte.
Schon bald nach dem ersten Schlag der Kirchturmuhr auf Westminster Hall
wurde durch die Erfindung der "Feder" Anfang des 15. Jahrhunderts der
Bau tragbarer Uhren möglich, und Takt für Takt drängte sich der mobile
Zeitmesser in den Alltag hinein. Martin Luther hatte 1527 eine Uhr geschenkt
bekommen, über die er mehr als begeistert gewesen sein soll. Er hatte
damals bereits deren Wert und Funktion erkannt.
Sie hießen Halsuhren, Dosenuhren oder Sackuhren. Zunächst zeigten all
diese Uhren nur die volle Stunde an, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts
wurde auch in Minuten gezählt. Was war das bereits für ein Unterschied
zu jenen Tagen, als man zwar die Tageszeiten unterschied und den Sonnenstand
beobachtete! Als man aber noch keinen Sinn im Messen der Zeit sehen konnte
oder aber am rinnenden Stundenglas, am Verzehren der Kerze nicht nur das
Verrinnen der Zeit, sondern auch das Memento Mori, das Gedenken
an den Tod mitten im Leben, stets im Gedächtnis hatte. Das Ruhende
solle man nicht bewegen: manche Uhr aus dieser Zeit trägt noch einen
solchen Spruch auf ihrem Gehäuse und verweist damit in eine Epoche, die
vom Gleichmaß stärker angezogen war als von der Veränderung.
Scharfe Kontraste sind das, zwischen der vormodernen Lebensweise, die
sich nach keinem künstlichen Zeitmesser richtete, und unserer heutigen,
in der man zwar Zeit in Bruchteilen von Sekunden bemessen kann, aber zugleich
im Begriff steht, eine Vorstellung von der Ewigkeit zu verlieren. Ich
will deshalb an diesem Abend ein paar Worte zu Ihnen sprechen über das
Verhältnis von Zeit und Lebensordnung, in der früheren und in der heutigen
Welt, über die Gestaltung unserer Lebensrhythmen, und über die Freiheit,
sich Zeit zu nehmen, wenn man sie für sich und andere braucht.
Als Volkskundlerin, aber auch aus der eigenen Lebenerfahrung, stehen mir
die Rhythmen der bäuerlichen und handwerkerlichen Lebenswelt früherer
Tage vor Augen, die sich allmählich zu ändern begannen. Sie waren geprägt
von Licht und Dunkelheit und von den Zyklen des Lebens, denen Mensch und
Tier gemäß ihrer Natur und ihrer Umwelt unterworfen waren. Die Einrichtungen
des Kirchenjahres mit ihrem Festkalender und den lokalen Bräuchen untermauerten
diese Zyklen und setzten sie in soziale Zeichen um.
Säe- und Erntetermine oder bestimmte Arbeiten in Haus und Hof richteten
sich nach Ordnungsmustern, die heute kaum mehr das Verständnis aufgeklärter
Zeitgenossen finden würden. Wenn der Schnee auf den Gräbern lag, ging
man mancherorts dazu über, am Flachs zu spinnen, und wenn im Frühjahr
zu einem bestimmten Termin die Wallfahrer durchs Dorf zogen, dann war
es an der Zeit, die Saat auszubringen.
War die Rhythmisierung
der Zeit, die im 16. Jahrhundert einsetzte und nach und nach das ganze
Leben bestimmte, auch noch grob, und nach unseren heutigen Maßstäben gemächlich
organisiert, so sollte sich das rasch und nachhaltig ändern. Bald trug
alle Welt, die es sich leisten konnte, Uhren, Taschenuhren, Pendeluhren,
Bauernuhren, Offiziersuhren, Karossenuhren. Das war zuerst bei den Stadtbürgern
so. Uhren erschienen auf Türmen, auf Simsen, und seit dem Ende des 17.
Jahrhunderts auch auf den Straßen, nämlich an Laternen. Sie belebten den
öffentlichen wie den privaten Raum. Von den bürgerlichen Häusern des 17.
und 18. Jahrhunderts strahlten sie in guten Zeiten aufs Land aus, und
bestimmten mehr und mehr den bäuerlichen Alltag mit. Allmählich gehörten
sie zu einer jeden häuslichen Ausstattung dazu, und zeigten den Wohlstand
der Familie an, genauso wie Sofas, Ohrensessel, Spiegel, Koffer und Klaviere.
Ihre Bildsprache und Ornamentik war zwar einem überlieferten Formenkreis
aus Volkskunstmotiven entlehnt, wie etwa die Bienenstockuhr, ihre Funktion
aber unterlag dem neuen Wertekanon von Rationalität, Effizienz, Pünktlichkeit
und zielgerichtetem Handeln. Auch das zog, so wie es sich die Volksaufklärer
des 18. Jahrhunderts erdacht hatten, mit den Uhren in die ländlichen Haushalte
ein. Der Blick auf die Uhr wurde zur Gewohnheit, und im saturierten bürgerlichen
und bäuerlichen Milieu in den Friedenszeiten des 18. Jahrhunderts zum
Zeichen für Behaglichkeit, Ordnung, Wohlstand und redliches Leben.
Doch das blieb nicht
immer so behaglich, sondern veränderte ein ganzes Grundgefühl. Alles
hat seine Zeit, das mag der Wahlspruch der Menschen Alteuropas gewesen
sein, von nun an aber richtete sich das öffentliche und das private Leben
danach aus, daß Zeit genommen wurde. In den überlieferten Ordnungen, denen
der Schein des Immergleichen anhaftete, setzte das Jahr, die Woche, der
Tag ein Räderwerk in Gang, dessen Fixpunkte vorbestimmt waren. Geburt
und Tod, deren Sitz im Leben jedermann bewußt waren, wie wir von vielen
Bildzeugnissen des Spätmittelalters wissen, markierten Anfang und Ende
zyklischer Lebensvollzüge.
Wenn der Tag erwachte,
erwachte mit ihm das Leben. So habe ich es noch erfahren auf dem Gutshof,
auf dem ich aufgewachsen bin. Noch höre ich deutlich die Geräusche der
Morgendämmerung, das rufende Vieh, die Stalltüre, die zwischen der vierten
und fünften Stunde der Nacht vernehmlich über den Hof klang. Und noch
sehe ich vor mir die Morgenröte des Winters, des Frühjahrs, des Sommers
und des Herbstes aufsteigen, und mit ihr ein Bewußtsein von der Arbeit,
die der Jahreszeit gemäß vollbracht werden mußte.
Wenn einer starb, ob Mensch oder Tier, dann lag ein dumpfer Ton über uns
und unserer bäuerlichen Welt, dann haben wir still gewartet, bis die Seele
ihren Frieden fand und der Eintritt in eine andere Welt vollzogen war.
Alles lag eng beieinander, Freude neben Leid, und unsere Existenz wurde
gestützt durch eine strenge Ordnung aus Wachen und Schlafen, aus Arbeit
und freier Zeit. Doch in Wahrheit waren es nur Anmutungen von Beständigkeit,
denn mit den Motoren und Maschinen, und den Konzepten rationeller Betriebsführung
in der Landwirtschaft schwand auch diese Ordnung dahin. Den letzten Erntekranz,
den letzten Tanz um die Linde, den Sommerabend auf der gelben Holzbank,
die jene Linde umfing, all das haben wir Ende der 1960er aus unserem Leben
gelöscht. Zunächst hat man gar nicht gemerkt, daß etwas fehlte, denn schön
waren die Jahre des Wohlstandes, des Fortschritts, der Sicherheit in einer
Welt, in der es alles zu kaufen gab, durchaus, aber deren Rhythmen immer
nervöser, immer ungemütlicher wurden. Der Wohlstand und die Sicherheit,
sie haben vor allem auch der älteren Generation gefallen, welche die Wirtschaftskrisen
des vergangenen Jahrhunderts erlebt und zudem noch ein genaues Bild im
Kopf und im Herzen trugen von den beiden Kriegen, die so viel Angst und
Unsicherheit verbreitet hatten. Unmerklich aber deuteten sich die Schattenseiten
der Preisgabe überlieferter Ordnungen an, indem das Leben sich zerstreute
und nach ungewohnten Takten zu schlagen begann.
Das hatten bereits
die Gesellschaftskritiker des beginnenden Maschinenzeitalters, des 19.
Jahrhunderts, erkannt und eindringlich vor den Folgen gewarnt. Das hatten
auch die aufmerksamen Beobachter zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkt,
und vor allem für die Großstädte der Zwanziger Jahre beschrieben. So war
das ganze Jahrhundert benommen von dem rasanten Tempo und dem Veränderungsdruck,
der auf den Generationen in einem nie gekannten Ausmaß lastete und ihnen
die natürliche Lebensfreude nahm. In welcher Weise dies sich in den Gemütserregungen
der Zeitgenossen widerspiegelte, mag ein Lied zum Ausdruck bringen, das
Marlene Dietrich 1930 unter der Begleitung von Friedrich Holländer gesungen
hat. Es heißt darin:
Wenn ich mir
was wünschen dürfte,
käm ich in Verlegenheit
was ich mir denn wünschen sollte,
eine schlimme oder gute Zeit.
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
möcht ich etwas glücklich sein
denn wenn ich gar zu glücklich wär,
hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.
Die schlimmen Zeiten,
in denen die Menschen Heimweh nach dem Glücklichsein hatten, waren nach
dem Kriege überwunden. Doch unsere heutigen Lebensformen und Lebensrhythmen
machen es vor allem der nachwachsenden Generation schwer, Orte und Ordnungen
zu erkennen, in denen sie sich Zuhause fühlen, die ihnen Schutz und Geleit
durch das Leben bieten. Wir erfahren das oft in unserer Arbeit als Hochschullehrer,
aber auch im Freundeskreis oder in der eigenen Familie.
Wenn ich deshalb abschließend
noch ein paar Worte zu Ihnen spreche über die Gestaltung unserer Lebensrhythmen
und die Freiheit, sich Zeit zu nehmen, wenn man sie für sich und andere
braucht, dann geschieht das vor dem beschriebenen historischen Hintergrund.
Lebensordnungen waren immer auch Zeitordnungen; nie waren die Menschen
wirklich frei von den Sorgen der Sicherung der Existenz und den Bedingungen,
die ihnen ihre Umwelt auferlegte. Aber seit den ersten Schlägen der Uhren
von Westminster Hall am Ausgang des Mittelalters werden die Zeit, und
der unruhige Blick auf die Uhr immer mehr zum Zuchtmeister unserer auf
Gewinn und Effizienz ausgerichteten Lebensweise. Was die eine Stunde
verweigert, gibt die nächste, diesen Sinnspruch findet man ebenfalls
auf alten Uhren, und er soll uns daran gemahnen, mit Augenmaß und Geduld
auf den Fluß des Lebens zu achten, in dem nicht Dinge und materielle Werte,
sondern Lebewesen die wichtigste Rolle spielen sollten. Unsere Freiheit
besteht darin, über die Stunde hinauszublicken und unsere Lebensrhythmen
so zu gestalten, daß sie sowohl den Anforderungen unseres Alltages, als
auch den Menschen um uns herum gerecht werden.
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Prof.
Dr. Bernd Oberdorfer
Evangelische Theologie
Universität Augsburg |
"Hunde, wollt ihr
ewig leben?"
"Kerls, wollt ihr
denn ewig leben?" Wenn ein Oberbefehlshaber seinen aus der Schlacht fliehenden
Soldaten dies zuruft, dann kann es in seinen Augen nur eine Antwort geben:
"Nein, natürlich nicht!" Der Preußenkönig Friedrich der Große, von dem
das Wort stammt[1] (die Fassung "Hunde, wollt ihr ewig leben?" entsprach
seinem Sprachgebrauch übrigens kaum, sie entstand denn auch erst in den
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Titel eines deutschen Spielfilms
über die Schlacht von Stalingrad[2] ), Friedrich der Große also erhoffte
sich davon gewiss eine motivierende Wirkung auf seine vor der Übermacht
der Gegner zurückweichende Truppen. Übrigens erfolglos; die Schlacht bei
Kolin am 18. Juni 1757 endete mit der ersten Niederlage des siegverwöhnten
Kriegsherrn im von ihm angezettelten später sog. "Siebenjährigen Krieg".
Ob das daran lag, dass der so geartete Versuch, die Leute anzufeuern,
motivationspsychologisch vielleicht nicht ganz unanfechtbar ist? Dies
muss uns hier nicht beschäftigen. Viel interessanter ist die Frage, wie
der König überhaupt darauf kam anzunehmen, dass dieser Zuruf die Stimmung
der Soldaten wenden könnte.
"Kerls, wollt ihr denn ewig leben?" Dieser gespielt entsetzte Ausruf ist
natürlich pure Rhetorik. Es ist sinnlos, dass ihr davon lauft; denn sterben
müsst ihr ohnehin - wenn nicht heute, dann morgen oder an irgend einem
Tag in näherer oder fernerer Zukunft. Der Wunsch, ewig leben zu wollen,
ist ungefähr so sinnvoll wie der, an mehreren Orten gleichzeitig physisch
präsent sein zu können - es wäre vielleicht manchmal ganz praktisch, ist
aber völlig unrealistisch. Es ist eine infantile Allmachtsphantasie. Endlichkeit
gehört zur Signatur kreatürlicher Existenz, und wer das leugnet, macht
sich Illusionen über sich selbst und die eigenen Seinsperspektiven. Wer
bei rechtem Verstand ist, kann bei dieser Lage der Dinge wirklich nicht
ernsthaft ewig leben wollen. Wenn das aber so ist, dann ist es im Prinzip
völlig gleichgültig, ob meines Lebens Spanne heute oder erst in etlichen
Jahrzehnten abgelaufen sein wird. Also, Kerls: Zurück in die Schlacht!
"Kerls, wollt ihr denn ewig leben?" Seien wir froh, dass der "Alte Fritz"
kein besonders frommer Mann war. Denn sonst müssten wir damit rechnen,
dass er seinen Zuruf auch ganz anders gemeint haben könnte. "Kerls, wollt
ihr nicht ewig leben?" Das wäre dann eine Art Sirenengesang, um die Soldaten
in den ‚Heldentod' zu locken. Die erwartete Antwort auf diese Frage könnte
nur lauten: "Ja, natürlich will ich!" Der Preußenkönig stünde damit in
einer langen Tradition, die auch nach ihm nicht abriss. Der selbst- und
bedingungslose Einsatz fürs Vaterland sichert unvergänglichen Ruhm und
ewiges Leben. "Dulce et decorum est pro patria mori", dichtete schon der
Römer Horaz, "süß und geziemend ist's, fürs Vaterland zu sterben", und
Generationen von Gymnasiasten hatten diesen Satz staatstragend auszulegen,
tunlichst in Zusammenhang mit dem Wort Jesu: "Niemand hat größere Liebe
als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde" (Joh 15,13). Was
ist schon der irdische Tod angesichts der bevorstehenden himmlischen Herrlichkeit?
Und ist nicht auch in dieser Perspektive die Frage, ob mein Leben früher
oder später endet, im Prinzip völlig gleichgültig, wenn auf mich doch
ein endloses, ewiges Leben in Glückseligkeit bei Gott wartet? Schreibt
nicht Paulus: "Ich halte dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit
nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden" (Rm 8,18)?
Es ehrt König Friedrich, dass er darauf verzichtet, die Vision himmlischer
Glückseligkeit zu instrumentalisieren für seine höchst irdischen politisch-militärischen
Ziele. Dass er es bei dem realistischen Hinweis auf die Endlichkeit der
Lebenszeit belässt, mit der als Faktum sich jeder Mensch arrangieren muss,
ob er nun an ein Jenseits glaubt oder nicht. Dies entspricht auch durchaus
den sonstigen Überzeugungen Friedrichs. "Jeder soll nach seiner Façon
selig werden" - solange er nur seine Untertanenpflichten erfüllt. "Räsonniert,
so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!" - diesen Satz
Friedrichs hat Immanuel Kant in den höchsten Tönen gelobt[3] und gerade
darin eine höchst aufgeklärte Haltung erkannt, weshalb er denn auch das
"Zeitalter der Aufklärung" als "das Jahrhundert Friederichs" bezeichnet[4]
. Die religiöse Hoffnung auf ein ewiges Leben erscheint in dieser Perspektive
gewissermaßen als ein Überbauphänomen, als Ausdruck einer privaten Weltanschauung,
als individueller Versuch, mit dem harten Faktum der Endlichkeit der eigenen
Existenz irgendwie fertig zu werden, und die Obrigkeit hat sich dafür
nicht zu interessieren, solange aus einer solchen Hoffnung nicht irgend
ein sozial unerwünschtes Verhalten entsteht.
Nun müssen wir uns heute Abend nicht darauf beschränken, die als solche
hoch respektable Perspektive eines aufgeklärten Politikers einzunehmen,
der wir die grandiose Errungenschaft der Religionsfreiheit verdanken.
Wir können uns der religiösen Frage selbst zuwenden: Welchen Sinn hat
es, auf ein ewiges Leben zu hoffen? Hat es überhaupt einen Sinn? Man könnte
ja sagen: Die Hoffnung auf ein Jenseits verdirbt das Diesseits. Wer sein
Vertrauen darauf setzt, dass nach dem Tod noch etwas kommt, entwertet
das Leben vor dem Tod. Übersieht das Glück der Gegenwart, weil angeblich
eine sehr viel glanzvollere Zukunft bevorsteht. Vertrödelt die unwiederholbare
Intensität des Augenblicks, weil er meint, unendlich viel Zeit zu haben.
Macht es sich leicht mit seiner ethischen Verantwortung, weil er sich
und andere auf einen Ausgleich für die erlittene Not, auf ein besseres
Leben im Jenseits vertrösten kann. Nicht umsonst wollte der Religionskritiker
Ludwig Feuerbach im 19. Jahrhundert aus Anhängern des Jenseits Verehrer
des Diesseits machen.
Ohne Zweifel hat das Christentum immer wieder Tendenzen zur Entwertung
der irdischen Existenz im Namen des ewigen Lebens gefördert. Der große
evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher hat freilich schon am Ende
des 18. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass die Güte von Gottes erster
Schöpfung geleugnet wäre, wenn man die ganze Hoffnung auf eine endzeitliche
Neuschöpfung setzen wollte. [5] Indes kann keine Rede davon sein, dass
die christliche Tradition in jeder Hinsicht dem irdischen Leben im Namen
des ewigen Lebens die Würde hätte rauben wollen. Die Aussicht, dass jeder
Mensch sich dermaleinst vor Gott für das wird verantworten müssen, was
er in diesem Leben getan hat, und dass dabei die endgültige Entscheidung
über seine Existenz fallen wird, gibt dem irdischen Leben ja gerade eine
ewige Bedeutung, eine Bedeutung für die Ewigkeit. Ausgerechnet die Aussicht
auf die Ewigkeit gibt der Zeit also ein besonderes Gewicht. Natürlich
schließt das nicht aus, sondern ein, dass nicht die irdische Existenz
als solche, sondern nur eine bestimmte Lebensführung in Ewigkeit Bestand
hat, eine Lebensführung, zu der auch der Verzicht auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung
gehören kann.
Allerdings war es derselbe Schleiermacher, der im Namen der Religion die
Hoffnung auf individuelle Unsterblichkeit scharf kritisierte. "Was aber
die Unsterblichkeit betrifft", schrieb er in seinen berühmten "Reden über
die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" [6] , "so kann
ich nicht [ver]bergen, die Art, wie die meisten Menschen sie nehmen und
ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade
zuwider. (...) sie (...) sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen
nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst, und sind ängstlich
besorgt um ihre Individualität." Sie "wollen nicht einmal die einzige
[= einzigartige] Gelegenheit ergreifen, die ihnen der Tod darbietet, um
über [ihre] Menschheit hinauszukommen; sie sind bange wie sie sie mitnehmen
werden jenseits dieser Welt und streben höchstens nach weiteren Augen
und beßeren Gliedmaßen." Hoffnung auf individuelle Unsterblichkeit ist
also für Schleiermacher ein irreligiöser Egoismus, ist der Wunsch, sich
festzuhalten, obwohl das Heil doch darin besteht, sich loszulassen, die
"scharf abgeschnittnen Umriße unserer Persönlichkeit" zu erweitern und
"sich allmählich (zu) verlieren" in die unendliche Fülle des Universums.
Und Schleiermacher rät deshalb: "Versucht doch aus Liebe zum Universum
Euer Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu
vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach mehr zu sein
als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert", und
er schließt mit dem emphatischen Ausruf: "Mitten in der Endlichkeit Eins
werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die
Unsterblichkeit der Religion."
"Kerls, wollt ihr denn ewig leben?" - folgen wir Schleiermacher, dann
ist auf diese Frage eindeutig mit Nein zu antworten, jedenfalls wenn an
eine wie auch immer geartete zeitliche Zukunft gedacht ist. Unser irdisches
Leben können wir ohnehin nicht festhalten, und an der Hoffnung auf eine
möglicherweise perfektionierte Fortsetzung unserer Existenz im Jenseits
sollen wir uns nicht festhalten, weil wir dadurch den Sinn der Religion
verfehlen, die uns von uns selbst befreien und uns unseres Eingebundenseins
in das Ganze der Wirklichkeit gewiss machen soll. Dieses Eingebundensein
ist bereits in der Gegenwart unüberbietbar erfahrbar, und diese Erfahrung
wird von dem Übergang aus dem Leben in den Tod überhaupt nicht tangiert.
Wer so glaubt, kann mit Paulus sprechen: "Ich bin gewiss, dass weder Tod
noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges
noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem
Herrn" (Rm 8,38f).
Aber lassen sich die Hoffnungen auf ein ewiges Leben so ohne weiteres
als egoistische Wünsche von Leuten denunzieren, die sich nicht abfinden
wollen mit der Tatsache, dass es sie einmal nicht mehr geben wird, und
die in der durchaus anfechtbaren Gewissheit leben, die Güte der Schöpfung
müsse sich darin erweisen, dass sie in Ewigkeit nicht untergehen? Und
ist eine sozusagen abgespeckte ‚Unsterblichkeit im Augenblick' tatsächlich
alles, was wir guten Gewissens festhalten dürften von den vielfältigen
Hoffnungen auf eine endgeschichtliche Vollendung, wie sie in der Menschheitsgeschichte
in großer Buntheit und Disparatheit entwickelt worden sind? Ich meine:
Nein. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er über seine Grenzen hinaus
fragt. Und es gehört zur Würde des Menschen, dass er sich nicht abfindet
mit den Unvollkommenheiten dieser Welt. Und es gehört zumindest zum christlichen
Glauben das Vertrauen, dass Gott die Welt, die er geschaffen hat, nicht
in all ihrer Erbärmlichkeit sich selbst überlässt, sondern sie ihrer Vollendung
entgegen führt. Und warum sollte es uns Menschen verboten sein, Bilder
der Vollendung zu entwerfen, Bilder, die antworten auf Erfahrungen des
Mangels und des Leidens, Bilder aber auch, die Erfahrungen des Glücks
und des Gelingens festhalten und dem Wunsch nach ihrem Dauern Ausdruck
verleihen? Warum sollte es als solches schon Zeichen großer Frömmigkeit
sein, wenn wir etwa den Schmerz über das durch den Tod abgerissene Gespräch
mit unseren Nächsten einfach hinnehmen, ohne uns die Hoffnung auf ein
Wiedersehen zu erlauben? Und ist es wirklich Ausdruck höchsten Gottvertrauens,
wenn wir uns abfinden mit der Ungerechtigkeit in einer Welt, in der es
- wie schon die Psalmisten wussten[7] - den Frevlern und Egoisten häufig
so ersichtlich gut geht, während der Anständige "täglich geplagt" ist?
Kein Geringerer als Immanuel Kant hielt die Vorstellung, dass dies das
letzte Wort sein könnte, für moralisch schlechterdings unerträglich. So
gewiss es eine egoistisch-maßlose Gier nach Ewigkeit gibt, die nur auf
gesteigerten Genuss aus ist, so gewiss gibt es einen Verzicht auf Vollendungshoffnung,
der nur scheinbar fromm ist, in Wirklichkeit aber nur Resignation und
Trägheit fromm bemäntelt. Lassen wir uns die Träume vom Gelingen nicht
verbieten, weder vom empiristischen Realismus der Religionskritiker noch
vom resignativen Realismus der Frommen - und auch nicht von den Dogmatikern
eines neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses, die genau wissen, was
ein moderner Christ heute noch glauben darf und was nicht.
Natürlich gibt es da viel Wildwuchs. Die Versuchung ist groß, sich den
"neuen Himmel und die neue Erde" so vorzustellen, dass dort alles, was
wir hier als angenehm empfinden, noch viel angenehmer sein wird, während
das Unangenehme fortfällt. Doch schon sobald wir uns fragen, ob wir noch
dieselben Personen wären, wenn alles Unglück, das wir erlebt, alle Fehler,
die wir gemacht, alle Anfechtungen, die wir durchlitten haben, aus unserer
Biographie getilgt wären, wird das Fragwürdige eines derart klinisch reinen
ewigen Lebens deutlich. In einer schönen Anekdote wird erzählt, wie der
große Schweizer Theologe Karl Barth nach einem Gemeindevortrag von einer
älteren frommen Dame gefragt wird: "Herr Professor, werden wir dermaleinst
unsere Lieben wiedersehen?", und der "Herr Professor" antwortet: "Ja gewiss
- aber auch die Anderen!" Andererseits erscheint die Vorstellung wenig
attraktiv, dass uns auch im ewigen Leben das nachfolgen, ja verfolgen
wird, was uns jetzt das Leben schwer macht. In einem wenig bekannten Theaterstück
von Max Frisch namens "Triptychon" gibt es eine Szene[8] , da begegnet
in einer Art Hades ein Vater, der jung gestorben ist, seinem als Greis
gestorbenen Sohn. Beide sind im Alter ihres Todeszeitpunkts, erkennen
sich deshalb erst am gemeinsamen Namen. Sobald sie sich jedoch erkannt
haben, fallen sie sofort in die vertrauten Verhaltensmuster zurück: Der
jugendliche Vater meint dem rüstigen Greis, der sein Sohn ist, das Angeln
erklären zu müssen, aber immer in dem Gestus: "Du wirst es ja doch nie
richtig lernen." Und der Sohn lässt sich das bieten. Im Tod bleibt alles
gleich, es kommt nichts Neues hinzu, das ist die trostlose Botschaft.
Es gibt kein neues, klärendes, versöhnendes Gespräch zwischen den Toten,
das ein neues Licht auf die Geschichte ihrer Beziehung würfe. Sie wiederholen
nur die alten Worte und Konstellationen. Schöne Aussichten ...
Versteht man angesichts dessen Schleiermachers höhnische Bemerkung über
die, die sich selbst ins Jenseits mitnehmen wollen, nicht besser? Ich
denke zwar, dass es essentiell zur christlichen Hoffnung gehört, dass
ich mich im ewigen Leben als mich selber wissen werde (das ewige Leben
ist kein Nirwana). Gewiss hat Schleiermacher aber zumindest in der Hinsicht
Recht, dass es nicht in unserer Macht steht, ein vollständiges und in
sich schlüssiges Bild der endzeitlichen Vollendung und unseres Seins darin
zu entwerfen. Ewiges Leben ist in einem radikalen Sinn geschenktes Leben,
und deswegen ist der erste Satz aller christlichen Eschatologie das Psalmwort
(Ps 37,5): "Befiehl dem Herrn deine Wege; er wird's wohl machen!" Dennoch
gehört es zu unserem Menschsein, Bilder der Vollendung zu imaginieren.
Alle Ansätze zu einem solchen Bild müssen in irgend einer Form Kontinuität
und Diskontinuität zum jetzigen Leben, Identität und Veränderung miteinander
verbinden. Es muss etwas gleich bleiben, und es muss etwas anders werden,
wenn auf der einen Seite das Verschwinden im gestaltlosen Nirwana, auf
der anderen Seite die Frisch'sche Hölle des Immergleichen vermieden werden
soll. Ich wage dafür einmal den Begriff: Ewiges Leben ist versöhntes Leben.
Nach christlicher Überzeugung ist die Hoffnung auf ewiges Leben in Botschaft,
Wirken und Geschick Jesu verankert und verbürgt, und die Gestalt des ewigen
Lebens ist in seiner Auferstehung vorabgebildet. Der Auferstandene ist
derselbe, und doch ganz anders. Er lebt, und trägt doch die Wundmale seines
Kreuzestodes. Das Kreuz ist Teil seines ewigen Lebens geworden, nicht
im Sinne einer sadistisch-masochistischen Verewigung des Leidens, sondern
zum Zeichen der ewigen Gültigkeit seines Versöhnungswerkes - für uns,
um unseretwillen, uns zugute. Ewiges Leben ist im Kern neues Leben in
der Gemeinschaft des Auferstandenen, versöhntes Leben in der Gemeinschaft
mit dem Versöhner, Leben, in dem das alte Leben im besten Sinne aufgehoben
ist.
"Kerls, wollt ihr etwa ewig leben?" Der "Alte Fritz" bekam auf diese Frage
übrigens eine wohlverdiente Antwort, die ihn schnell auf den Boden der
Tatsachen zurück brachte. Die ihn beiläufig lehrte, dass es ein Leben
vor dem Tod gibt, und dass es keineswegs gleichgültig ist, ob es ein gutes
oder ein schlechtes Leben, ein kurzes oder ein langes Leben ist. Dass
also die Spanne unserer irdischen Zeit ein eigenes Recht, eine eigene
Würde hat. "Kerls, wollt ihr etwa ewig leben?" Trocken erwiderte einer
der müde aus der Schlacht zurückkehrenden Soldaten: "Bei dem Sold ist's
für heute genug!" [9] Dem ist nichts hinzuzufügen.
[1] Vgl. Winfried
Hofmann, "Flegels haben Wir genung im lande". Friedrich der Große in Zeugnissen,
Berichten und Anekdoten, Frankfurt (M) / Berlin 1986, 168. Nach Duden,
Bd. 12: Zitate und Aussprüche, Mannheim etc. 1998, 231, lautet das Wort
sogar: "Ihr verdammten Kerls, wollt ihr denn ewig leben?"
[2] Vgl. Duden, Bd. 12, a.a.O., 230f. Der Film kam 1958 in die Kinos.
[3] Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784),
in: ders., Wer-ke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Darmstadt
1983, 53-61, hier: 55 und 61.
[4] A.a.O., 55.
[5] Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über den Werth des Lebens, in: ders.,
Kritische Ge-samtausgabe, Bd. I/1: Jugendschriften 1787-1796, hg. von
Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, 421: "Alle ihre Freuden erklären
sie nun für falsche Freuden und das Leben selbst für ein Thal des Jammers
und der Thränen und sie meinen noch, dass sie Gott einen Dienst damit
thun, und sich selbst ein Loblied damit singen. Soll es das Lob des höchsten
Wesens erhöhn, oder die Erwartung auf die künftige Welt, die wir von sei-ner
schöpferischen Hand erwarten, spannen, und auf ihren Genuß vorbereiten,
wenn alles erniedrigt wird, was hier anzutreffen ist? Wer glaubt wol einem
Künstler bei einem Ken-ner einen Dienst damit zu leisten, wenn er ein
schönes Werk desselben unwürdig herabsezt, bloß weil er hoft ein noch
schöneres von ihm vorzeigen zu können?" Vgl. dazu Bernd Oberdorfer, Geselligkeit
und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwick-lung Friedrich Schleiermachers
bis 1799, Berlin / New York 1995, 358f.
[6] Die folgenden Zitate aus: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion.
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1. Aufl. Berlin 1799,
130-133. Zitiert nach: ders., Kritische Gesamtausgabe. Bd. I/: Schriften
aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. von Günter Meckenstock, Berlin /
New York 1984, 246f; Orthographie und Zeichensetzung im Original.
[7] Vgl. etwa Ps 73.
[8] Vgl. Max Frisch, Triptychon. Drei szenische Bilder, Frankfurt (M)
1981, 31-100: Das zweite Bild.
[9] Wörtlich: "Für dreizehn Pfennig wars für heute genug!" (Hofmann, Flegels,
a.a.O., 168).
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Prof.
Dr. Johannes Masing
Jura
Universität Augsburg |
Feste im Leben - fest
im Leben
Liebe Festgemeinde!
Stehen Sie fest im Leben? Haben Sie Weihnachten voll im Griff, die wesentlichen
Vorbereitungen getroffen? Oder stehen Sie so fest im Leben, daß Sie daran
noch gar nicht denken konnten? So fest, daß Sie sich ein Fest eigentlich
gar nicht leisten können?
"Fest im Leben" - ein merkwürdiger Schreibfehler in der Ankündigung. Meine
Überlegungen sollen eigentlich den Festen im Leben gelten, der Bedeutung
des Festtags. Die scheinbare Irreführung erweist sich aber bei näherem
Bedenken als richtiger Hinweis, fast als Vorwegnahme des Ganzen: Erst
durch das Fest stehen wir fest im Leben - weil nur im Fest die Zeit ihren
verfestigenden Zugriff des Alltags lockert.
Also Fest und Leben.
Was kann ein Jurist, ein Staatsrechtler zumal, dazu schon sagen? Nun gut,
Juristen haben für alles Gesetze. Auch für die Feste: Es gibt sogar im
Grundgesetz eine Bestimmung zum Sonn- und Feiertag und im übrigen ein
ganzes Feiertagsgesetz. Aber das Fest im Leben? - In der Tat führt die
Verbürgung des Festes das Staatsrecht an seine Grenzen: Denn mit dem Fest
institutionalisiert der Staat in rechtlicher Form ein im Kern religiöses
Anliegen - und das, obwohl der moderne Staat doch gerade kein christlicher
und kein religiöser Staat mehr ist. Er kann es deshalb nur um den Preis
der Veräußerlichung und Säkularisierung. Um des Festes selbst willen kann
er niemandem vorschreiben, daß am Feiertag besonderes gelten soll. Auch
nicht durch Mehrheitsbeschluß. Der neuzeitliche Staat muß das Fest funktional,
als Zweck rechtfertigen - und damit an seinem inhaltlichen Kern eigentlich
vorbeigehen. Gerade dieser Grenzbereich zeigt aber die Interdependenz
von freiheitlichem Staates und Freiheitswahrnehmung durch seine Bürger
- und diese Grenzwanderung möchte ich mit Ihnen versuchen.
Der Staat kann nur Möglichkeiten schaffen, kann regeln nur für
äußerliche Zwecke. Es liegt dann an uns, diese Möglichkeiten aufzugreifen
und mit Inhalt zu füllen, mit Inhalt, der mit den staatlich benannten
Zwecken nichts zu tun haben muß, im Gegenteil sich von jeder Verzweckung
absetzen kann. Und gerade dadurch erhalten dann paradoxerweise die staatlichen
Regelungen erst ihre Kraft und innere Rechtfertigung. Bleiben die Möglichkeiten
ungenutzt und die Freiheit leer, wirkt das auf das Recht zurück. Es bekommt
eine andere Funktion und verändert alsbald auch die rechtlichen Möglichkeiten
und Vorstrukturierungen. Was heute das Feiertagsrecht trägt, ist fraglich
geworden. Ablenkung vom Alltagsstreß? Maximierung von lustvollen Alternativaktivitäten
zum Beruf? Die Wirtschaft jedenfalls sieht ihre Stunde gekommen: Unterstützt
von Behörden mit Maßnahmen, die der Rechtsbeugung gelegentlich nahekommen,
sucht man mit Macht den Feiertag der kommerziellen Geschäftigkeit zu öffnen.
Besseres Zeitmanagement und mehr Zeit für mehr Konsum - und wäre es nicht
praktisch gewesen, wenn Sie heute noch ein paar Weihnachtsgeschenke hätten
kaufen können?
Nun gibt es natürlich auch eine ganz weltliche Funktion des Feiertags:
Die Arbeitsruhe, die Erholung. Der Mensch braucht schon deshalb Pause,
damit sich seine Arbeitskräfte regenerieren. Das ist auch in der heiligen
Ordnung der Ökonomie einleuchtend: Sie braucht den Feiertag zur Konditionierung
des Produktionsfaktors Humankapital, zur Effizienzsteigerung. Ärgerlich
ist in dieser Perspektive nur die Gleichzeitigkeit des Stillstands: Können
die Regenerationsphasen nicht liberalisiert werden, so daß sie das Wirtschaftsleben
möglichst wenig beeinträchtigen? Vordergründig wird hierdurch sogar ein
Freiheitsgewinn reklamiert.
Auch ein säkularer Staat ist auf eine solche ökonomische Reduktion des
Feiertags aber nicht verwiesen. In der altmodischen Formulierung von 1918
heißt es im Grundgesetz(1): "Der Sonntag und die staatlich anerkannten
Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung
gesetzlich geschützt." Es liegt an uns, ob wir das in unsere moderne Welt
noch übersetzen können. Das Recht ist hier auf unsere Kraft verwiesen.
Und zwar auf eine religiöse Kraft. Ein "Mehr" als Arbeitsruhe gibt es
nur, wenn wir dieses Mehr erfahren. Was ist uns das Fest?
Wir feiern jede Woche ein Fest, das Sonntagsfest. In jüdischer Tradition
war der Sabbat der siebte Tag: Der Höhepunkt der Woche, der Tag des Dankes.
Später ist der Sonntag in neutestamentarischer Sicht der erste Tag der
Woche geworden: Die Auferstehung des Herrn als die Lebenskraft für die
ganze Woche. Wir dürfen beides heute in eine kreisförmige Bewegung zusammenziehen:
Das Fest als Anfang und Ende der Woche, als Kraftquelle im Gedenken des
sich Verdankens. Stellen Sie sich vor, wir hätten keinen Sonntag. Der
Zeitfraß würde uns verschlingen. Der Sonntag reißt aus dem Alltag heraus,
ist Innehalten im Fluß der Zeit. In ihm eröffnet sich Rückblick und Neuanfang
zugleich. Er entläßt den Alltag aus sich heraus und nimmt ihn wieder in
sich zurück. Erst durch ihn wird es möglich, den Alltag zu ordnen. Mit
dem Sonntagsfest erst finden wir uns in der Zeit zurecht, konstituieren
wir uns in der Zeit.
Hierin liegt das Wesen des Festes überhaupt: Es gibt Orientierung. So
begehen wir die großen Lebensereignisse als Fest, die unsere Zeit mensurieren:
Die Taufe, die Hochzeit und - in der Trauerfeier ? auch der Tod. Viele
säkularisierte Feste fügen sich hier ein. Nicht zufällig liegen dabei
die großen Kirchenfeste im Jahreskreis parallel zum Zyklus der Jahreszeiten:
Das Osterfest, in dem wir das Leben nach dem Tod, die gesamte Lebenskraft
des Frühjahrs nach der Kältestarre des Winters feiern. Oder nun das Weihnachtsfest:
Die Ankunft des Lichtes in das Dunkel der Welt an den kürzesten Tagen
im Jahreskreis. Das Fest ist die Kraft, aus der heraus das Leben seine
Ausrichtung erfährt. Das Fest hat damit religiöse Dimension. In ihm liegt
Sinngebung und Sinnerfahrung: Es nimmt uns aus der Zeit heraus, ist eine
Auszeit - ohne Zweck, für nichts und ganz umsonst. Der Himmel gibt sich
in dieser Offenheit als "don du rien", als Geschenk des Nichts (2).
"Es war, als hätt
der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt."
- schreibt Eichendorff in der Mondnacht. Und auch hier wirkt das Fest
fort:
"Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus."
Das Fest verheißt
der Seele ein Zuhause. Es gibt frische Luft, und belebt die Wälder und
Felder. Es verschafft Klarheit. Eine Klarheit, die Sterne erkennen läßt.
Es führt aber auch über diese romantische Interpretation noch hinaus.
Im Fest ereignet sich Gemein-schaft: Ein Fest feiert man nicht allein.
Es gibt Zeit füreinander - und sprengt so die verzweckten Beziehungen
des Alltags. Die Erfahrung der Transzendenz wirkt so auf die Erde zurück:
Hören wir dazu Hölderlin (3):
(...)
"Dann feiern das Brautfest Menschen und Götter,
Es feiern die Lebenden all,
Und ausgeglichen
Ist eine Weile das Schicksal
Und die Flüchtlinge suchen die Herberg,
Und süßen Schlummer die Tapfern,
Die Liebenden aber
Sind, was sie waren, sie sind
Zu Hause, wo die Blume sich freuet,
Unschädlicher Glut und die finsteren Bäume
Der Geist umsäuselt, aber die Unversöhnten
Sind umgewandelt und eilen
Die Hände sich ... zu reichen,"
(...)
Das Fest bricht ein
in die menschlichen Ordnungen, befreit und öffnet neue Wege. Flüchtlinge
finden Heimat, die Tapferen dürfen ihr martialisches Gewand ablegen, die
Unversöhnten finden einen Weg zur Versöhnung. Jedes Fest ist so Abglanz
des messianischen Festes, von dem wir eben von Jesaja hörten: Der Herr
der Heere wird für alle Völker ein Festmahl geben. Er zerreißt auf dem
Berg Zion die Hülle, die alle Nationen verhüllt. Er wischt die Tränen
ab von jedem Gesicht.
Ein wahrhaftes Fest kann der Mensch nicht machen. Nicht durch die Rechtsordnung,
aber auch nicht durch eine soziale oder kulturelle Anstrengung. Das Fest
schenkt sich - oder auch nicht. Wir können uns nur in Bereitschaft bringen,
in eine Offenheit, ein Hören, das Gestimmtheit eröffnet. So gibt es auch
nicht nur eine Form, sondern unendlich viele Formen, in denen wir ein
Fest vorbereiten können: Durch Zeremonien und Rituale oder durch bewußten
Bruch derselben. In apollinischer Askese oder dionysischer Ekstase, durch
Konzentration in Stille oder durch die Macht der Musik. Die transzendente
Kraft weist das Fest nicht in den Bereich des Ephemeren. Bei Jesaja wird
viel-mehr eine große Vitalität des Festes deutlich: Es ist dort ein "Gelage
mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen".
Die Unverfügbarkeit des Festes ist freilich zugleich seine größte Gefahr.
Unter einem Zugriff, der das Fest zu erzwingen sucht, wird es zur toten
Maske. Je mehr die Sehnsucht nach dem Fest das Fest festzubinden sucht,
desto mehr entzieht es sich und verformt zur lächerlichen Attrappe. Das
Gelage wird zum derben Besäufnis, das Zeremoniell zur hohlen Form, die
Musik zu Gefühlsduselei oder leerem Ästhetizismus. Wir sehen diese Gefahr
im täglichen Weihnachtskommerz ebenso wie in der Suche nach immer neuen
kicks und events. Bernhard Casper, der lange in Augsburg
gelehrt hat, schreibt hierzu in seiner Phänomenologie des Festtags: "Wird
... vergessen, daß das Geschehen des Festes in dem Sinn ein symbolisch
verweisendes ist, daß es sich als realer Anhalt für den Unendlichen Sinn
in der Geschichte schenkt, keineswegs diesen aber finit in einem
endlichen Geschehen setzt, dann wird das Fest selbst zur Illusion und
zum Idol." (4)
Wenn das Fest also ein Geschenk ist, so bedarf es der Bescheidenheit.
Zu einem Wunschzettel ge-hört auch, daß nicht alle Wünsche erfüllt werden.
Natürlich ist die Sprache Hölderlins zu groß für das, was wir tatsächlich
aufzunehmen vermögen. Sie formuliert eher eine Sehnsucht als eine Reali-tät.
Immerhin knüpft sie damit aber doch an unseren Erfahrungen an. Dabei wird
nicht jeder Feier-tag zum Fest werden ? und muß es auch nicht. Selbst
Weihnachten darf mißraten und wird immer wieder mißraten. Vielleicht ist
es oft nicht mehr als die Erinnerung an ein Fest, vielleicht ist es das
aber immerhin. Wir können das Fest im Großen wie im Kleinen suchen, mit
Hilfe von Kunst und vielleicht auch von Kitsch. Seine eigentliche Voraussetzung
bleibt die Offenheit. Vielleicht stellt sich dann das Fest ganz anders
ein als erwartet. Daß Gott als unehelicher Abkömmling obdachloser Migranten
auf die Welt kommt, im Eselsstall in der Krippe, hatte auch niemand im
Festplan vorgesehen.
Ich muß zurück zum Staatsrecht. Das Staatsrecht hat mit der Wirklichkeit
des Festes natürlich nichts zu tun: Transzendenz ist nicht seine Aufgabe.
Das Staatsrecht interessiert sich für die gesell-schaftliche Funktion
des Feiertags: "Synchrone Taktung des sozialen Lebens", heißt es hierzu
in einem modernen Kommentar (5). Recht zeigt in dieser Zurückhaltung seine
Würde. Es überträgt uns die Freiheit aber damit zugleich auch die Verantwortung,
auf diesen Taktschlag hin die Musik her-vorzubringen und das Leben zu
einem sozialen Leben werden zu lassen. Hat diese Musik Kraft, ist auch
ihr Taktschlag gut. Wie wir feiern wirkt so auf das Recht zurück. Es kann
den Feiertag zum Ausnahmetag erklären, wenn hieraus ein tragfähige Taktung
entsteht. Es kann sie stützen, aber nicht garantieren. Bringen wir die
Kraft aus dem Fest nicht auf, wird auch das Metronom ein Anderes Maß vorgeben
- im Zweifel das der Wirtschaft.
Leben wir aber aus dem Fest, so leben wir in Gemeinschaft - auch mit den
anderen Religionen. Der jüdische Sabbat, an dem das Leben still steht,
selbst die Zahl der Schritte begrenzt ist, der Ramadan, an dem keine Nahrung
aufgenommen, der Austausch zwischen Welt und ich unterbrochen wird oder
das buddhistische Zeitrad, das sich um den unbewegten Nullpunkt als das
eigentliche Zentrum der Zeit dreht - aus der Zeitlosigkeit zeitigen wir
unser Leben. Gemeinsam. Vielleicht wird so auch Zeit, einmal nichtchristliche
Festtage zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Viele Juden und Muslime
- im übrigen zunehmend auch deutsche - warten darauf. Eine Gemeinsamkeit
im Fest. Ein großer An-Spruch, aber wir wollen danach suchen: Das Brautfest
der Menschen und Götter, von Mensch und Gott. Dann stehen wir im Leben
fest.
(1) Art.
140 GG i.V.m. Art. 139 WRV.
(2) So der Titel des Essai d'anthropologie de la fête,
von Jean Duvignaud, Paris 1977.
(3) Aus: Vaterländische Gesänge, Der Rhein.
(4) Bernhard Casper, Das Begehen des Festtages, in: ders.,
Das Ereignis des Betens, 1998, S. 106, 116.
(5) M. Morlok, in. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3,
Art. 140/Art. 139 WRV Rdnr. 10.
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Prof.
Dr. Hans-Eberhard Schurk
Elektrotechnik
Fachhochschule Augsburg |
Strom des Lebens
"Und Gott der Herr
pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen
hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der
Erde allerlei Bäu-me, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum
des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und
Bösen. Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und
teilte sich von da in vier Hauptarme."[1]
Die Begriffe "Strom"
und "Leben" tauchen zum ersten Mal auf der zweiten Seite der Bibel
auf; und zwar noch vor der Geschichte mit der Rippe.
Für mich war der Griff zur Bibel, um ehrlich zu sein, bereits der zweite
Versuch, den Einstieg in das Thema "Strom des Lebens" zu finden. Zuerst
wollte ich so an die Sache herangehen, wie man es von einem Elektroingenieur
und Fachmann der New Technology erwartet: Über das Internet. Als ich den
Suchbegriff "Strom des Lebens" durch diverse Suchmaschinen jagen
ließ, meldeten sich über 45.000 Dokumente, in denen die Begriffe "Strom"
und "Leben" in irgendeiner Beziehung zu einander standen. Mich
in diese Informationsflut zu stürzen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen
gewesen, ich wäre schmählich untergegangen. Und so habe ich mich auf die
Tradition besonnen und angefangen, in der Bibel zu blättern. Dort bin
ich auch schnell fündig geworden. Übrigens hätte ich auch von hinten anfangen
können, denn auf der vorletzten Seite des Neuen Testamentes, in der Offenbarung
des Johannes, findet man: "Und er zeigte mir einen Strom des lebendigen
Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes."[2]
I.
Wenn ich die Augen
schließe und mir einen Strom vorstelle, denke ich an ein breites und träges
Wasser, das in der Sonne ruhig durch blühende, fruchtbare Landschaften
fließt und vielen Feldern und Gärten das kostbare Nass spendet. Wenn ich
nicht so gut drauf bin, denke ich aber vielleicht auch an einen tosenden
Fluss, der sich durch tiefe Schluchten gräbt, der in gefährlichen Strudeln
rotiert und über wilde Stromschnellen schießt, der sich heftig an den
Ufern reibt und die Spuren seiner Macht hinterlässt.
Fließendes Wasser bedeutet Dynamik und niemals Stillstand. Unbeirrbar
nimmt es seinen Lauf, allerdings nur in eine Richtung, von der Quelle
bis zur Mündung. Ein Strom assoziiert Gemeinschaft und Gemeinsamkeit,
kein Wassertropfen ist isoliert und für sich allein, alle füllen das Flussbett;
ein Flussbett, das sich durch die vereinte Kraft der Wassertropfen stetig
weiter entwickelt, das sich nach den Gesetzen der Schwerkraft und der
Strömungsmechanik in geologische Formationen schneidet, das aber auch
in feste Bahnen gezwungen wird durch Begradigungen, Stauseen, Kanäle oder
andere in den natürlichen Lauf eingreifende Maßnahmen.
Auch mein Leben ist nicht statisch: Von Geburt an immer im Fluss, in Entwicklung,
dynamisch, schnell und turbulent, manchmal mehr, manchmal weniger; geprägt
durch meine Umgebung; beeinflusst durch Randbedingungen, denen ich mich
fügen muss und denen ich mich nicht entziehen kann. Die Zeit rückwärts
laufen zu lassen kann ich nicht, gegen den Strom zu schwimmen, gelingt
mir nur allzu selten, und ich muss aufpassen, in dem dabei entstehenden
Strudel nicht unterzugehen. Ich fühle mich angetrieben und treibe selbst
mit in einem Strom, im Strom meines Lebens.
Ich selbst bin nur ein winziger Wassertropfen zusammen mit Millionen anderer,
die gemeinsam mit mir durch das Flussbett strömen, sich dem vorbestimmten
Lauf nicht zu entziehen vermögen, ihn aber trotzdem formen und gestalten.
Dies war immer so, zu allen Zeiten und in allen Epochen. Und dabei haben
seit 2000 Jahren die christlichen Kirchen im Strom des Lebens eine nicht
unerhebliche Rolle gespielt. Oftmals waren sie die treibende Kraft, im
positiven wie im negativen Sinn. Sie haben Energien freigesetzt oder auch
gebremst. Sie waren Maßstab für menschliches Tun und Handeln. Vor etwas
mehr als 150 Jahren hat die einsetzende Industrialisierung das menschliche
Leben gehörig durcheinandergewirbelt. Die technologische Fortschrittsidee
hat Strömungen entstehen lassen, die in Bezug auf eine neue Lebensorientierung
auch mit den christlichen Kirchen in Konkurrenz getreten sind.
Und daran ist nicht zuletzt der elektrische Strom schuld.
II.
Was ist überhaupt
elektrischer Strom? Wenn ich diese Frage meinen Studenten in der ersten
Stunde zu meiner Vorlesung "Grundlagen der Elektrotechnik" stelle, kommen
unter anderem diese Antworten:
"Strom kommt aus der Steckdose"; "man kann Strom nicht sehen, nur an
seinen Wirkungen erkennen"; "Strom ist die Bewegung von Ladungsträgern".
Letztere Antwort tröstet mich immer, deutet sie doch darauf hin, dass
der Physikunterricht in der Schule nicht ganz umsonst war.
Die Wirkungen, die wir offensichtlich mit dem elektrischen Strom in Verbindung
bringen, sind Licht, Wärme und Bewegung. Strom stellt uns die Energie
zur Verfügung, die uns das Leben leichter macht. Aber auch Radio, Fernsehen,
Telefon und Computer funktionieren ohne Strom nicht. Und da wir das Radio
nicht einschalten, um das Zimmer zu erwärmen, wird elektrischer Strom
nicht nur mit Energie, sondern auch mit Informationsverarbeitung assoziiert.
Manche Energieversorger, wie die Stadtwerke Düsseldorf, formulieren es
griffig: "Strom ist Leben!"[3]
Wie beim Wasser ist es beim elektrischen Strom ebenfalls so, dass Wirkungen
durch Bewe-gung, durch Dynamik, entstehen. Der Stromkreis ist vergleichbar
mit dem Flussbett: Wider-stände bestimmen die Stromstärke, elektrische
oder elektronische Bauteile, wie Dioden oder Transistoren schalten Stromwege
um und öffnen Schleusen, andere speichern Energie wie in einer Staustufe,
um diese Energie zu einem anderen Zeitpunkt abzugeben und dadurch erst
bestimmte Effekte zu ermöglichen. Elektrische Energie ist deswegen so
attraktiv, weil sie aus jeder anderen Energieform erzeugt und in jede
Energieform, die wir zum Leben benötigen, umgewandelt werden kann. Dies
ist mit verhältnismäßig geringem technischen Aufwand möglich: So benötigt
man höchstens drei Drähte, um elektrische Energie zu transportieren.
"Seit 50 Jahren ist die Elektricität herausgetreten aus dem Laboratorium
des Gelehrten: die Erfindung der Telegraphie zeigte ihr das eigentliche
Feld ihres Wirkens inmitten des täglichen Lebens; die Erfindung der modernen
elektrischen Maschinen ließ sie auf diesem Felde mehr und mehr sich ausbreiten
und festigen" findet man in einem Buch über Elektrizität aus dem Jahre
1885 von Max Wildermann [4]. Und weiter heißt es da: "Die Frage des
elektri-schen Lichtes ist erst zur einen Hälfte gelöst. Die Beleuchtung
von Straßen, Plätzen und öf-fentlichen Anlagen durch elektrisches Bogenlicht
schreitet rüstig vorwärts; das Glühlicht, welches allein von den elektrischen
Lichtarten für das Innere unserer Häuser sich eignet, ist vorläufig beschränkt
auf Gebäude größeren Umfangs, weil diese für ihre zahlreichen Flammen
sich den Luxus eines eigenen Motors und einer eigenen Lichtmaschine gestatten
können." Übrigens auch heute wieder eine topaktuelle Frage. Und weiter
heißt es an anderer Stelle: "Das jüngste Kind der Elektrotechnik ist
die elektrische Übertragung der Kraft. Sie hat bisher die wenigsten greifbaren
Resultate aufzuweisen, und doch steht es außer Frage, dass sie nach kürzerer
oder längerer Zeit eine radikale Umwälzung aller Betriebsverhältnisse
zur Folge haben wird." Das Buch erscheint zu einer Zeit, in der die
Starkstromtechnik gerade Laufen lernt und die "Elektrotechnik",
ein Begriff, der von Werner Siemens geprägt worden ist, ihren 6. Geburtstag
feiert.
Als der amerikanische Geschichtsphilosoph Henry Adams im Jahr 1900 die
Pariser Weltaus-stellung besucht, ist er vom Anblick der großen Dynamomaschinen
so beeindruckt, dass er in ihnen nicht nur das Symbol unendlicher Kraft
sieht, sondern auch erwartet, dass durch ihr Wirken die Welt verändert
werden könnte. Er ist sogar der Meinung, dass eine historisch wirksame
Energie, nämlich die des Christentums durch eine andere, neue Energieform
abgelöst werde. Den gewaltigen Anstieg der Energieerzeugung, den das 19.
Jahrhundert mit sich gebracht hat, sieht er als Ursache für weitreichende
Veränderungen im Gefüge der Zivilisation. "Die Menschen werden von
Jahr zu Jahr immer mehr von Kräften abhängig, die in zent-ralen Kraftwerken
angesiedelt sind. Es ist nicht länger ein Kampf zwischen Menschen, son-dern
zwischen Motoren, die die Menschen antreiben." So nachzulesen in dem
Kapitel "Die Dynamomaschine und die hl. Jungfrau" seiner 1907 erschienenen
und 1919 mit dem Pulit-zerpreis ausgezeichneten Autobiographie.[5]
Für Adams ist am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zustand erreicht, der
ihn vom Ende der "Kontinuierlichkeit" sprechen lässt. Um Begriffe
aus der Physik zu verwenden: Adams sieht die Welt als thermodynamisches
System wachsender Entropie, er sieht die Menschen getrieben in einer Welt,
in der katastrophale Unfälle den Grad der Beschleunigung anzeigen. Auch
wenn Adams die Situation übersteigert und übertrieben dargestellt hat,
lässt sie das Phantasiepotenzial erahnen, das die Elektrizität am Anfang
des 20 Jahrhunderts initiiert hat.
Wie stark die Dynamik der damaligen Zeit auch auf andere Bereiche gewirkt
hat, sieht man um 1900 überall. Strömungsmetaphern tauchen in den verschiedensten
kulturellen Kontexten auf; sie bezeichnen das ständige Sich-Verändern
der Wahrnehmung, den Fluss der Dinge und Empfindungen. In der Malerei
wird vom Impressionismus alles fest Umrissene aufgelöst, man denke an
die dynamisch wirkenden Bilder von Monet oder gar an die bedrohlich in
Strudeln aufgehenden Werke von Van Gogh. Die Musik beginnt ebenfalls,
starre und festgefahrene Strukturen aufzulösen. Die Architektur lässt
Statisches weich und fließend werden. Bewegung und Dynamik setzen neue
Akzente: Musterbeispiele dafür sind die Bauwerke des großen kata-lanischen
Architekten Gaudí, dessen 150. Geburtstag sich heuer jährt.
Zurück zur Technik. Für uns in der sogenannten zivilisierten Welt ist
Strom aus der Steckdose heute so selbstverständlich, dass wir uns nicht
einmal mehr vorstellen können, wie es anders sein könnte. Im Moment verspüren
wir auch keinen besonderen Anlass, darüber nachzuden-ken, woher die elektrische
Energie kommt. Dass die Primärenergie, die wir zur Stromerzeugung benötigen,
begrenzt ist oder nur mit hohem Risiko und großem technischem Aufwand
verarbeitet werden kann, lässt uns derzeit ziemlich kalt. Alternativen
zur konventionellen Stromerzeugung setzen sich nur allzu langsam durch.
In Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen die flächendeckende Anwendung
der Elektrizität noch in den Kinderschuhen steckt, wird unser westliches
System kopiert, ohne nach echten Alternativen zu suchen. Für die Energieversorger
scheint im Moment nur schneller Profit im Vordergrund zu stehen. Auch
könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Dynamik und Aufbruchstimmung,
wie man sie in der elektrischen Energietechnik vor 100 Jahren verspürt
hat, verpufft und in einer konser-vativen und eher bremsenden Grundhaltung
aufgegangen ist.
Wie sehr wir auf die elektrische Energie angewiesen sind, wird uns erst
bei einem Stromausfall wirklich bewusst. Wir können uns nicht einmal mehr
eine Tasse Kaffee kochen; wenn wir Glück haben, haben wir wenigstens eine
Kerze im Haus, um nicht im Dunkeln sitzen zu müssen. Die Lebensmittel,
die wir in der Gefriertruhe aufbewahren, sind verdorben. Was wir aber
fast noch als schlimmer empfinden: Wir bekommen keine Informationen über
Radio, Fernse-hen oder Telefon. Und das erst macht uns so richtig hilflos.
Und so kann man eigentlich nichts dem etwas spöttischen Slogan der Elektrizitätswirtschaft
entgegensetzen, der da lautet: "Im Prinzip geht alles, aber ohne Strom
läuft nichts!"[6]
III.
Manchmal läuft aber
auch etwas über. Zum Beispiel Informationen, mit denen uns die elekt-ronischen
Medien von allen Seiten übergießen, und dies in einem vorher nie gekannten
Ausmaß.
Elektrischer Strom als Träger von Informationen ist schon lange bekannt,
länger als die An-wendung der Elektrizität in der Energietechnik. Strom
ist in nahezu idealer Weise geeignet, Informationen zu übertragen. Durch
entsprechende Codierung, wie "kurz-kurz-lang" im Mor-sealphabet oder wie
"Strom- kein Strom- Strom" im Personalcomputer können unendlich viele
Informationen schnell und mit sehr einfachen technischen Mitteln verarbeitet
und übertragen werden. Dies umso mehr, als dass sich auch die drahtlose
Informationsübertragung durch elektromagnetische Wellen immer weiter durchsetzt.
Die letzte Errungenschaft auf diesem Gebiet ist das Handy, das für uns
selbstverständlich geworden ist und uns den Segen der unbeschränkten individuellen
kommunikativen Mobilität ermöglicht.
Bei Wildermann heißt es 1885: " Ein dichtes Telegraphennetz überdeckt
heute ganz Europa und die civilisierten Länder der übrigen Weltteile;
von Tag zu Tag schürzen die Maschen dieses Netzes sich enger und enger,
und in kleinere Orte, die von seinen Fäden noch unberührt blieben, sendet
es telephonische Ausläufer, um keinen die Wohlthat des schnellen Verkehrs
vermissen zu lassen."[7]
Das WorldWideWeb lässt bereits grüßen. Letzteres ist dadurch möglich geworden,
dass in den letzten 50 Jahren die elektronische Halbleitertechnologie
unglaubliche Fortschritte gemacht hat. Dabei ging es Schlag auf Schlag:
Die Entwicklung des ersten Transistors 1948 in den Bell-Laboratorien durch
Bardeen, Brattain und Shockley, die Erfindung des ersten integrierten
Schaltkreises durch Texas Instruments im Jahre 1960 und die Erfindung
des ersten Mikroprozessors im Jahre 1971 durch Intel gelten als Meilensteine
dieser Entwicklung. Immer mehr und immer komplexere Funktionen konnten
immer preiswerter realisiert werden. Für die Arbeitswelt bedeutete dies
enorme Änderungen und Umstrukturierungen. Um nur ein Beispiel zu nennen:
Die Automatisierungstechnik, eine Synthese aus Energie- und Informationstechnik,
nahm furiosen Einzug in die Produktionsstätten und kostete dort viele
Arbeitsplätze; Arbeitsplätze, die freilich an anderer Stelle wieder entstanden,
da aber für andere und anders ausgebildete Menschen. Dieser Prozess ist
nach wie vor im Fluss und natürlich noch nicht abgeschlossen. Und so wird
die Elektronik für die einen zum Segen, für die anderen zum Fluch. Sie
ist durch nichts aufzuhalten. Wachsender Wettbewerbsdruck, der damit verbundene
Preisrückgang sowie geschicktes Marketing tragen das ihrige dazu bei.
Aber dies ist nicht unbedingt ein typisches Merkmal unserer Tage: "Die
neue Elektrotechnik arbeitete nach dem für die damalige Technik neuen
Grundsatz: nicht warten bis die Bedürfnisse und Kunden kommen, sondern
immer neue Bedürfnisse wecken und vervielfältigen, die Kunden selbst aufsuchen,
anregen, heranziehen, den Verbrauch heben, Aufträge auf Massenware hereinbringen
und Absatz für den Strom schaffen, für den elektrischen wie für den Warenstrom,
um den Großbetrieb zu nähren, die immer weiter verbilligende Großfabrikation."[8]
Soweit die Beschreibung der Wirtschaftsphilosophie von Emil Rathenau,
dem Gründers der AEG, in der Biografie von Alois Riedler aus dem Jahre
1916. Den Bedarf zu wecken, ist nach wie vor in der Branche hoch aktuell
und geradezu zum Motor geworden. Mittlerweile sind die Entwicklungszeiten
auf weniger als ein Jahr für neue elektronische Produkte im sog. Consumermarkt
geschrumpft. Dadurch müssen zur Erzielung hoher Renditen in immer kürzeren
Zeitabständen Unterhaltungsbedürfnisse geweckt werden, der Spieltrieb
in unserer fun-orientierten Gesellschaft muss nicht nur bei Kindern und
Jugendlichen angeregt werden, um ihn schließlich mit Profit befriedigen
zu können.
So ist es heute, 30 Jahre nach Senden der ersten Email, üblich, sich per
Handy eine SMS zu senden, um sein Rendezvous zu vereinbaren oder sich
in der Disco gegenseitig anzubaggern. Spiele werden per Handy "gedownloaded".
Auch wenn das Interesse an der Technik bei unseren Kindern in den
letzten Jahren massiv gesunken ist, der Umgang mit den neuen Technologien
ist für sie selbstverständlich geworden. Elektronik hat sozusagen den
Spielkameraden im Sandkasten abgelöst, der Bildschirm ist zum direkten
Kommunikationspartner geworden. Die Kommunikation ist virtuell und unpersönlich,
die Distanz zwischen den einzelnen Menschen vergrößert sich, obwohl die
Kommunikationsmöglichkeiten immer weiter perfektioniert werden.
Insgesamt jedoch lässt sich nicht verleugnen, dass die Welt näher zusammengerückt
ist. In Politik und Wirtschaft war es schon immer wichtig, die richtigen
Informationen zur richtigen Zeit und möglichst noch vor dem Gegenspieler
zu bekommen, um daraus Vorteile zu erzielen. Meister dieses Metiers war
Jakob Fugger, wie wir hier in Augsburg gut wissen. Heute sind alle Informationen,
die irgendwo veröffentlicht werden, zur gleichen Sekunde an jedem Ort
der Welt verfügbar. Welche Reaktionen dies an den Börsen der Welt hervorrufen
kann, haben wir im vergangenen Jahr erleben können. Alle Menschen wollen
- wie die Fugger vor 500 Jahren - auf Grund ihrer Informationen dem Wettbewerb
zuvorkommen. Heute allerdings handeln alle gleichzeitig und setzen damit
eine gegenläufige Spirale in Bewegung. Selbstverständlich liegt in diesem
Massen-Verhalten auch ein Reiz, bewusst falsche Informationen zu streuen,
um selbst Vorteile daraus zu ziehen. Auch dafür haben wir in Augsburg
Beispiele.
"Die fast unerschöpfliche Fähigkeit, mit Hilfe der Elektronik Informationen
zu speichern und wieder abzurufen, hat eben das Problem gerade nicht gelöst,
wie man im richtigen Augenblick die richtige Information erhält und wie
man sie dann sinnvoll verwertet. Von entscheidender Bedeutung sind die
Strukturen des Umgangs mit der Informationsflut", lässt uns Edmund
Stoiber in seiner Eröffnungsrede zum BayernOnline Kongress 2001 wissen.[9]
Und er fährt fort: "In unserer "informierten Gesellschaft" ist gegenwärtig
deutlich zu beobachten, wie leicht der Überfluss an Informationen in ein
Defizit an Wissen umschlagen kann, wie Reichtum so zum Mangel werden kann.
Ein funktionaler Analphabet, der zwar weiß, wie er alle denkbaren Informationen
abrufen kann, aber dann nicht in der Lage ist, ihnen einen Sinn zuzuordnen,
der wird gewiss auch in der Wissensgesellschaft hilflos vor seinem Monitor
sitzen bleiben."
Sozusagen vom User zum Looser.
Bei den elektronischen Informationstechnologien können wir heute die Dynamik
in mindestens gleichem Maße miterleben, wie sie die elektrische Energietechnik
um 1900 ausgelöst hat. Bedenkt man, welche Szenarien damals angedacht
und wie sie durch die Realität nicht nur eingeholt, sondern überholt worden
sind, können wir eigentlich nur erahnen, was uns die Zukunft bringen wird.
Aber heute wie damals wird unsere Phantasie nicht ausreichen vorherzusagen,
wohin wir treiben werden. Dass dabei auch Ängste eine große Rolle spielen,
ist nur natürlich.
IV.
Der Strom des Lebens
fließt unaufhaltsam weiter. Er steht als Bild für die Weiterentwicklung
der Zivilisation, die in Bewegung geraten ist, deren gewohnte Ordnungen
einem Wandel unterliegen, die mit neuen Potenzialen umgehen und neue Verhaltens-
und Organisationsmuster entwickeln muss.
So schwimmen wir zwar nach wie vor im großen Strom mit. Allerdings habe
ich den Eindruck gewonnen, dass hie und da Stromschnellen auftauchen,
die heftige Turbulenzen erzeugen. An manchen Stellen glaube ich, Gischt
und Schaum zu sehen: Einzelne Tropfen bleiben dabei auf der Strecke und
werden zerrieben. Überall lauern tiefe Wirbel, unterschiedlichste Strömungen
konkurrieren miteinander. Das Mitfließen im Strom ist für alle hektischer
geworden; jeder einzelne steht sozusagen unter Strom, muss sehen, wo er
bleibt, und wie er die nächste Stromschnelle heil überwinden kann.
Die christlichen Kirchen, die seit 2000 Jahren eine wesentliche Rolle
im Strom des Lebens gespielt haben, laufen Gefahr, in der von allen Seiten
auf den Menschen eindrängenden Informationsflut nicht mehr bemerkt zu
werden und dadurch ihre führende und prägende Rolle zu verlieren. Für
junge Leute ist es mittlerweile äußerst schwierig geworden, sich an irgendwelchen
Werten zu orientieren. Die Grenzen zwischen Information und Infotainment
sind fließend geworden. Es wird schwieriger zu unterscheiden zwischen
"virtual" und "reality". Mögen Computergenerationen in immer
kürzerem Abstand aufeinanderfolgen, mögen Warenumlaufzeiten und Produktionszyklen
immer kürzer werden, kein Kind und kein Jugendlicher wird deswegen schneller
erwachsen. Es braucht eben seine Zeit, bis der Mensch fertig ist. Hier
lassen sich die Entwicklungszeiten nicht verkürzen. Und da sehe ich für
die Kirchen durchaus eine Chance, wieder mehr wahrgenommen zu werden,
wenn sie sich um den Menschen bemühen, ihn ansprechen, persönlich und
nicht virtuell, wenn sie klar machen können, dass der Mensch mit seinen
Bedürfnissen und Nöten für sie im Mittelpunkt steht. Dass dies unter den
gegebenen Randbedingungen nicht gerade leicht ist, weiß ich auch. Präsenz
im Internet ist in der heutigen Zeit bestimmt nötig, aber mit Sicherheit
nicht das Kerngeschäft der Kirchen.
Vor einigen Jahren war ich einmal am Sambesi im südlichen Afrika. Der
riesige Strom fließt behäbig dahin, lässt sich kaum bremsen durch das
Baden eines schläfrigen Flusspferdes, lässt sich nicht stören durch das
Dösen einiger Krokodile, die auf einen unvorsichtigen Ruderer lauern;
eine kleine Stromschnelle hier oder dort lockert den ruhigen Lauf eher
auf, als dass sie ihn behindern oder in seinem Lauf verändern könnte.
In der Ferne jedoch steht eine riesige weiße Wolke über dem Fluss, eine
Wolke, die den großen Absturz ankündigt. Je näher der Sambesi dem Fall
kommt, um so unruhiger und hektischer wird er, bis er sich schließlich
mit donnerndem Tosen und gewaltiger Gischt in die Schlucht stürzt. Danach
fließt er wieder ruhig und entspannt weiter.
Auch wenn die Viktoriafälle ein grandioses Schauspiel der Natur sind,
wünsche ich sie mir nicht in meinem Lebensstrom. Ich sehe allerdings schon
die Hektik bei mir und um mich herum. Manchmal glaube ich auch, schon
in der Ferne eine kleine Wolke ausmachen zu können. Die Frage, die ich
mir dann stelle, ist die: Kündigt sie den Absturz an oder ist sie nur
eine normale Gewitterwolke über einem ruhig dahin fließenden Strom? Ich
weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich selbst etwas dazu tun kann,
den Lauf des Stromes zu beeinflussen. Ich weiß nur, allein kann ich es
mit Sicherheit nicht. Vielleicht können wir es gemeinsam. Aber wahrscheinlich
auch nicht ohne Hilfe.
"Und er zeigte mir einen Strom des lebendigen Wassers, klar wie Kristall,
der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes. Auf beiden Seiten des
Stromes mitten auf der Gasse ein Baum des Lebens, der trägt zwölfmal Früchte
und bringt seine Früchte alle Monate, und die Blätter des Baumes dienen
zur Heilung der Völker. Und es wird nichts mehr unter dem Bann sein. Und
der Thron Gottes und des Lammes wird darinnen sein, und seine Knechte
werden ihm dienen und sehen sein Angesicht, und sein Name wird an ihren
Stirnen sein. Und wird keine Nacht mehr sein, und sie werden nicht bedürfen
einer Leuchte oder des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten,
und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit."[10]
Vielleicht ist Gott ja auch so etwas wie elektrischer Strom: Er ist dynamisch
und lebendig, ich kann ihn nicht sehen, aber ich kann ihn spüren. Er macht
hell, wenn die Nacht um mich kommt. Wenn er ausfällt, werde ich hilf-
und hoffnungslos. Er gibt mir Botschaften, mich mit Informationen überfluten
wird er freilich nicht.
Allerdings kommt Gott nicht aus der Steckdose, er kommt aus dem Herzen.
Augsburg, 20. Januar
2002
Prof. Dr.-Ing. Hans-Eberhard
Schurk
Fachhochschule Augsburg
Anmerkungen:
[1] 1. Buch Mose 2,
8 - 10
[2] Die Offenbarung des Johannes 22, 1
[3] http://www.swd-ag.de/privatgewerbe/neuanschluss.htm
[4] Max Wildermann: Elektricität und ihre wichtigsten Anwendungen, Freiburg,
1885, S. VI
[5] Zitiert nach Klaus Plitzner (Hrsg.): Elektrizität in der Geistesgeschichte.
Christoph Asen-dorf: Avantgarde und Energie, Bassum 1998, S. 183
[6] z.B.:http://www.hvv-heidelberg.de/site/SWH/SWH100/sw100-3.htm
[7] Wildermann, S. VI
[8] Alois Riedler, Emil Rathenau und das Werden der Großwirtschaft. Berlin
1916, S. 122
[9] http://www.bayern.de/Presse-Info/Reden/2001/07-09.html
[10] Die Offenbarung des Johannes 22, 1-5
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